Brian Cronin, Einführung zum Denken Lonergans

1. Teil I - Denken: direkte und inverse Einsicht
1. Suche nach den Grundlagen
1. Die Bedeutungsstufen


1.1.1.3.3 Was ist Interiorität?

Die Interiorität ist nicht bloß irgendeine andere Theorie, sondern eine "Theorie" über Theorien; sie handelt weniger vom Herkömmlichen, sondern ist eher eine Hinwendung zu einer neuen Sichtweise, einem anderen Ansatz und einer völligen Neubewertung. Sie ist nicht in dem Sinn ein Überschreiten des Common Sense und der Theorie, dass sie deren Wert leugnete und sie hinter sich zurückließe, sondern im Sinne einer Wertschätzung derer eigentümlichen, aber begrenzten Beiträge. Wir wollen kurz vier Merkmale dieses dritten Stadiums der Bedeutung festhalten. Erstens. Die Interiorität ist durch ein Bewusstsein der eigentümlichen Prozesse des menschlichen intellektuellen Erkennens gekennzeichnet und durch die Reflexion über die Vielfalt der geistigen Tätigkeiten, die zusammen das menschliche Erkennen konstituieren. Sie erfordert nicht nur ein genaues Wissen um unsere Gefühle und Träume, um unsere Motivationen und unseren Charakter, sondern um die Vorgänge des Hörens, Denkens, Vorstellens, Sich-Erinnerns, Kritisierens, Bewertens und Urteilens. Das Erfassen der Tätigkeit des menschlichen Verstehens - nicht wie es sich in anderen, sondern in uns selbst ereignet -, ist das wesentliche Kennzeichen der Interiorität. Sie ist nicht bloß eine andere Theorie des menschlichen Erkennens, sondern gewährt einen Entscheidungsmaßstab für alle Theorien über das menschliche Erkennen im Lichte der Bewusstseinsgegebenheiten. Zweitens. Wenn wir die Tätigkeit des menschlichen Verstandes erfassen, dann verstehen wir den Ursprung aller Sprachen, Kulturen, Common-Sense-Schlüsse, philosophischen Systeme, empirischen Wissenschaften, den Ursprung des historischen Wissens, der Mathematik und Vielheit der Produkte des menschlichen Verstandes. Das Erfassen des Ursprungs dieser unbegrenzten Vielfalt der Produkte lässt uns erkennen, dass sie etwas miteinander gemeinsam haben, sich nach einer gemeinsamen Struktur ausrichten und dass sie - obwohl sie als einander widersprechend erscheinen - auch etwas zu dem einzigen Ziel des umfassenden Verstehens aller Dinge in der Einheit einer einzigen Perspektive beitragen können. Nichts ist jenseits der Zielrichtung des Verstehens; nichts kann prinzipiell ausgeschlossen werden. Wir können nicht alles ganz verstehen, aber wir können ein Verstehen anzielen, danach streben, es benennen, auf es hinweisen und uns daraufhin zubewegen; wir können unser unbegrenztes Verlangen nach Wissen erfassen und es mit den Grenzen des Erreichten vergleichen. Drittens. Die Kenntnis um die Entfaltung des Verstehens zeigt, dass es immanente Normen gibt, die in diesem Prozess wirksam sind. Die Regeln richtigen Vestehens, wie der Verstand tätig und angelegt ist, sind dem Vermögen zur Einsicht immanent. Wir können ein Wissen haben - und brauchen niemanden, der uns das sagen müsste -, wenn wir eine richtige Schlussfolgerung getroffen haben. Letztlich können wir von Autorität, Lehrmeister und Tradition unabhängig sein. Wir können uns den Daten zuwenden, etwas zu Ende durchdenken, die Beziehung zwischen dem Schluss und der Beweiskraft des Schlusses in Betracht ziehen, alle relevanten Fragen stellen, alle anderen Möglichkeiten auschließen und den Schluss als sicher, sehr wahrscheinlich oder nur als bloß wahrscheinlich behaupten. Wir sind dazu fähig, für unsere Schlussfolgerungen die Verantwortung zu übernehmen. Schlussfolgerungen sind vernünftig, vertretbar und beweisbar und weder das Ergebnis einer willkürlichen Wahl noch das eines blinden Anhangens an eine Tradition. Es gibt für für das Authentisch-Sein in unserem Sinne des Common-Sense, der Theorie und Interiorität ein Kriterium, und es besteht darin, den tiefsten und besten Neigungen unseres Herzens und Geistes die Treue zu halten. Viertens. Wir machen Fehler, können merkwürdigerweise aber reflektierend darüber hinausgelangen und die eigenen Fehler entdecken. Anschließend können wir die typischen Ursachen der Missverständnisse und falschen Urteile in einer systematischen Weise untersuchen. Wir können feststellen, dass wir uns all den Daten nicht aufmerksam zugewandt haben und darauf alle Aufzeichnungen lesen, oder dass wir voreilig und ohne ausreichendes Beweismaterial Schlüsse gezogen haben. Wir können erkennen, dass wir einen Sachverhalt nicht durchdacht haben, die Implikationen einer Behauptung erfassen, unsere Meinung genau und deutlich darlegen und unseren Kompetenzbereich klar abgrenzen. Wir können erkennen, wenn ein ungestümes Temperament mit im Spiel ist, das uns zu voreiligen Schlüssen drängt, oder ein ängstliches, das uns bei der Behauptung eines Schlusses unvernünftig zögern lässt. Wir können viele Befangenheiten, Vorurteile, Hintergedanken und eine starke, den Erkenntnisprozess beeinträchtigende Affektivität erkennen. Und indem wir dem Grundübel allen Missverstehens in Philosophie und Wissenschaft nachgehen, können wir die in unserem Erkennen wirksame Dialektik zwischen dem elementaren tierischen Erkennen mit dem Realitätskriterium der Sinnlichkeit und dem eigentümlich menschlichen Erkennen mit dem Realitätskriterium des richtigen Verstehens und Bejahens erkennen.

 

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