Autor: Thomas, Aquin von Buch: Wesen und Ausstattung des Menschen Titel: Kommentar zu: Thomas Summa Thomasausgabe Band06 Stichwort: Kommentar zu F1_075a6; Seele, Unzerstörbarkeit aufgrund der Einfachheit; kein Ding hat eine Hinordnung zum Nichtsein; Wirkung: Streben nach Sein (Erkennen, Wille) Kurzinhalt: In der Tat, ein an und für sich zerstörbares Wesen muß aus Teilen zusammengesetzt sein, und es ist nur zerstörbar durch Auflösung in seine Teile. Denn so erwirbt es ein Anderssein; und nur um ein solches, nicht um ein Nichtsein handelt es sich bei der ... Textausschnitt: 6. ARTIKEL Die Unzerstörbarkeit der Menschenseele
482a Die Lehre von der Unzerstörbarkeit oder der Unsterblichkeit der menschlichen Seele bildet den Höhepunkt der bisherigen Untersuchung. Und vieles von dem, was noch folgt, ordnet sich dieser Lehre ein und dient ihr als Stütze. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Menschenseele ist kein rein spekulatives, sondern ein äußerst praktisches Anliegen der Menschheit (vgl. S. 562). Von mannigfaltigstem und ständigem Werden und Vergehen umgeben und persönlich in dasselbe hineingestellt, haben die Menschen immer wieder diese Frage erhoben. Und bis auf den heutigen Tag gibt es neben den vielen, die sie bejahen, noch genug solcher, die sie — eben aus praktischen Gründen, wegen der Folgen, die sich aus ihrer Bejahung notwendig ergeben — verneinen. Gegner der Unzerstörbarkeit der Menschenseele sind die obengenannten Materialisten, ferner die Pantheisten, nach denen beim Tode des Menschen die Seele als vorübergehende Erscheinung des Absoluten in diesem auf- und untergeht. Die Unsterblichkeit der Seele lehren die großen Philosophen des Altertums, die Kirchenväter und die Scholastiker. Auch ist es Glaubenssatz, daß die Seele des Menschen unsterblich ist. (Fs; tblStw: Seele)
482b Thomas tut dar, daß die menschliche Seele weder an und für sich noch mitfolgend zerstört werden kann. Zunächst nicht mitfolgend, wie eine stoffliche Form oder ein Akzidens, die mit-zerstört werden, wenn das Wesensganze der Zerstörung anheimfällt. Die stoffliche Form hat kein unabhängiges Sein für sich, sondern hat das Sein nur im zusammengesetzten Ganzen und mit ihm. Ebenso hat das Akzidens das Sein nur in Abhängigkeit von seinem Träger. Und wie sie mit diesen das Sein erhalten, oder erzeugt werden, so verlieren sie es auch mit ihnen, d. h. sie hören einfach auf zu sein. Die Tierseele ist eine solche unselbständige, stoffliche Form, sie wird daher mitfolgend zerstört. Die menschliche Seele aber nicht, denn sie hängt als geistige, substantielle Form im Sein nicht vom Stoff ab, sondern hat das Sein für sich, sie ist selbständig. (Fs)
482c Aus demselben Grund kann sie aber auch nicht an und für sich zerstört werden. Thomas sagt nur kurz: Da die menschliche Seele selbständig und nur Form ist, der Form aber als der Wirklichkeit das Sein an und für sich zukommt, müßte sie sich, um an und für sich zerstörbar zu sein, von sich selbst trennen können, wie ein aus Stoff und Form Zusammengesetztes dadurch zerstört wird, daß sich die Form vom Stoff trennt. Ihre Einfachheit, ihr Nichtzusammengesetztsein steht also in Verbindung mit ihrer Selbständigkeit ihrer Zerstörung im Wege. — In der Tat, ein an und für sich zerstörbares Wesen muß aus Teilen zusammengesetzt sein, und es ist nur zerstörbar durch Auflösung in seine Teile. Denn so erwirbt es ein Anderssein; und nur um ein solches, nicht um ein Nichtsein handelt es sich bei der Zerstörung eines Wesens. Da nämlich jedes Ding als Wesenheit Seinsweise, d. h. Hinordnung zum Sein ist, kann kein Ding an und für sich eine Hinordnung zum Nichtsein haben. Eine solche Hinordnung wäre eine Hinordnung, die zugleich keine wäre, da sie keinen Zielpunkt hätte, auf den sie ginge, wie eine Bewegung nicht sein kann, für die kein Ziel gegeben ist. Ein Wesen kann also nur nebenbei eine Hinordnung zum Nichtsein in sich tragen dadurch, daß es eine Hinordnung zum Anderssein hat. Diese Hinordnung zum Anderssein setzt aber voraus, daß das Ding aus Teilen, seien es Wesens- oder Ausdehnungs-(Ganzheits-) Teile, zusammengesetzt ist. Dadurch, daß es den einen Teil verliert und einen neuen erwirbt, ist sein bisheriges Sein zerstört, d. h. ein anderes geworden. So verliert ein aus Stoff und Form zusammengesetztes Wesen das Sein, wenn die Form verlorengeht und der stoffliche Untergrund eine neue Form empfängt. Mit ihr ist ein neues Sein da und, wenn es sich um eine substantielle Veränderung handelt, auch ein neues Wesen nach dem Grundsatz: Die Zerstörung des einen ist die Erzeugung des andern. Deshalb kann ein einfaches Wesen, ein Geist, nicht zerstört werden. Als einfache Hinordnung auf ein einziges, ihm entsprechendes, bestimmtes Sein kann er keine Hinordnung auf ein anderes Sein haben. Er trägt in sich keinen Grund der Zerstörung. Nun ist aber die menschliche Seele nicht aus Teilen zusammengesetzt, sondern ein einfaches, selbständiges Wesen. Sie hat weder Wesensteile — das ist ihr mit jeder Form gemeinsam —, noch hat sie als höhere, geistige Form Ganzheitsteile. Sie kann somit auch nicht 'an und für sich', also überhaupt nicht zerstört werden. Die menschliche Seele fordert ihrer Natur nach die Fortdauer im Sein. (Fs)
483a Obgleich nun Thomas bereits im vorhergehenden Artikel die Zusammensetzung der Seele aus Form und Stoff abgelehnt hat, will er hier doch noch, wohl um bei seinen Gegnern aus dem Franziskanerorden nicht den Anschein zu erwecken, als ob er sie für Leugner der Unsterblichkeit der menschlichen Seele halte, dartun, daß die Seele, auch wenn sie aus Stoff und Form zusammengesetzt wäre, unzerstörbar wäre. Nach Ansicht der Alten, die Thomas teilte, ist die irdische (sublunarische) Materie aus den vier Elementen Feuer, Luft, Wasser und Erde zusammengesetzt, deren einander entgegengesetzte Beschaffenheiten aufeinander einwirken und so ständige Erzeugungen und Zerstörungen hervorrufen. Die Materie der Himmelskörper dagegen ist einheitlich, frei von Gegensätzen, weshalb die Himmelskörper der Zerstörung nicht unterworfen sind (vgl. 66, 2: Bd. 5 und oben Anm. [53]. Es kommt also auch nur eine solche Zusammensetzung aus Form und Stoff für die Zerstörung in Betracht, bei der im Stoff jene Gegensätze vorhanden sind. Wo dagegen im Stoff die Gegensätze fehlen, ist die Form unauflöslich mit dem Stoff vereint, da der Stoff nur zu dieser einen Form in Möglichkeit und diese Möglichkeit durch die eine Form vollständig verwirklicht ist (vgl. 84, 3 Zu 1 u. 97, 1: Bd. 7). Nun weist aber, wie Thomas aus dieser Annahme heraus geltend macht, die menschliche Seele, selbst wenn sie aus Form und Stoff zusammengesetzt wäre, keine Gegensätze auf, denn Dinge, die in Wirklichkeit einander entgegengesetzt sind und von ihr erkannt werden, nimmt sie nicht gegensätzlich auf, sondern in der Einheitlichkeit der Verstandesbegriffe; sie hat ein einheitliches Wissen von Entgegengesetztem und ist deshalb nicht zerstörbar. Von ihrer Weise aufzunehmen wird also wiederum auf ihre Weise zu sein geschlossen (vgl. S. 480). Die Materie der Seele ist ja nach Anschauung der Gegner eine "geistige", die auch der Ausdehnung entbehrt (vgl. Art. 7 Antw.). (Fs)
484a Endlich sieht Thomas noch das Naturstreben oder die Hinordnung der menschlichen Seele auf immerwährendes Sein als "Zeichen" ihrer Unzerstörbarkeit an. Es läßt sich aber aus dieser Hinordnung die natürliche Unsterblichkeit der Menschenseele, d. h. deren tatsächliche, immerwährende Fortdauer im Sein und im Tätigsein streng beweisen (vom Tätigsein der abgeschiedenen Seele ist erst in der 89. Frage die Rede). Denn die Hinordnung oder das Verlangen der Natur ist Ausdruck der Natur, diese äußert darin ihr Wesen. Die Natur muß daher dieser Hinordnung tatsächlich entsprechen, d. h. es muß der Natur tatsächlich das zukommen oder erreichbar sein, wonach sie verlangt, worauf sie hingeordnet ist, was Thomas in die Worte kleidet: "Ein natürliches Verlangen kann nicht vergeblich sein." Nun geht aber die natürliche Hinordnung der Menschenseele auf immerwährendes Sein und Tätigsein. Dies ergibt sich aus dem Verstandeserkennen des Menschen. Während nämlich jedes Ding von Natur aus danach strebt, sich im Sein zu erhalten, entspricht beim Erkennenden dieses Naturstreben seinem Erkennen. Das Erkennen ist das Maß für das Streben, auch für das Naturstreben des Erkennenden. Daher erkennt das Tier nur das augenblickliche konkrete Sein und ist deshalb darauf hingeordnet, für jeden Augenblick, "hier und jetzt", danach zu streben, sich im Sein zu erhalten. Der Verstand des Menschen dagegen erkennt das Sein und das Tätigsein schlechthin als ein Gut. Deshalb geht sein Streben über das gegenwärtige, augenblickliche Sein hinaus auf ein immerwährendes Sein und Tätigsein. Dem Verstandeserkennen folgt aber die natürliche Hinordnung im Willen, das als Gut erkannte Sein und Tätigsein zu wollen. Und so muß der menschlichen Seele von Natur aus die Unsterblichkeit tatsächlich zukommen. — Nur im Vorübergehen (Zu 1) sagt Thomas bezüglich des Ursprungs der menschlichen Seele: "Die Seele der Tiere wird von einer körperlichen Kraft hervorgebracht, die menschliche Seele dagegen von Gott." Als geistige Substanz ist sie in ihrem Sein vom Stoff unabhängig, folglich ist sie auch in ihrem Werden unabhängig von ihm; denn das Werden ist der Weg zum Sein. Sie kann also nur durch die schöpferische Tätigkeit Gottes entstehen. Näheres hierüber in Frage 90 ff., Bd. 7; zum Ganzen vgl. GrPh 1, 358 ff. u. 362 ff. (Fs) ____________________________
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