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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Wesen und Ausstattung des Menschen

Titel: Kommentar zu: Thomas Summa Thomasausgabe Band06

Stichwort: Kommentar zu F1_075a5; menschl. Seele: nicht zusammengesetzt; principium quod - p. quo; Grundsatz: Tätigkeit folt dem Sein: unstoffliche Wirkungen -> unstoffliche Ursaachen; Aufnahme (Beispiel Wachs): seinsmäßig - erkenntnismäßig; Aktualitätstheorie

Kurzinhalt: ... schließen wir, daß der Verstand die Formen der Dinge ohne die stofflichen Einzelheitsbestimmtheiten, der Sinn dagegen einzelbestimmte Formen aufnimmt...

Textausschnitt: 5. ARTIKEL
Die Seele nicht aus Stoff und Form zusammengesetzt

479a Nach Aristoteles-Thomas sind die körperlichen Dinge, die natürlichen oder Naturdinge, auch der Mensch, aus Stoff und Form zusammengesetzt. Stoff und Form bilden die zwei substantiellen Grundbestandteile ihres Wesens. Der Stoff ist reine Möglichkeit, die Form erste Wirklichkeit. Da beide zusammen ein einheitliches Vollwesen ausmachen, ist es klar, daß jedes von ihnen nicht auch Vollwesen sein kann, principium quod, Wesensgrund, welcher ist und tätig ist, sondern nur principium quo, Grund, durch den das zusammengesetzte Ganze Sein und Tätigsein hat. Und zwar ist der Stoff das principium quo potentiale, der verwirklichungsmögliche, und die Form das principium quo actuale, der verwirklichende Teilgrund oder Bestandteil; durch sie ist das ganze Wesen. (Fs)

Im Anschluß an seinen Lehrer Alexander von Hales (+ 1245), der alle Geschöpfe, auch die Geister, aus Stoff und Form zusammengesetzt sein ließ, hat der hl. Bonaventura (1221—1274) und haben seine Schüler, d. h. also die Vertreter der älteren Franziskanerschule, angenommen, die Seele bestehe aus Stoff und Form. Thomas nennt hier, wohl aus Pietät gegen seine Kollegen im Lehramt, die Namen seiner Gegner nicht. Er lehnt aus zwei Gründen eine "geistige Materie" in der Menschenseele ab: weil sie Seele und weil sie menschliche Seele ist, kann sie nicht aus Stoff und Form zusammengesetzt sein. Als Seele nicht, weil sie Form des Leibes und als solche Wirklichkeit ist, die jeglichen Stoff, sofern dieser ein Seiendes in Möglichkeit ist, ausschließt. Als menschliche, d. h. verstandbegabte Seele nicht, weil sie die Natur der stofflichen Dinge rein für sich, losgelöst von der stofflichen Vereinzelung, von den Einzelheitsmerkmalen, die die Natur im konkreten Einzelding hat, erkennt. Das setzt aber voraus, daß die menschliche Seele, bzw. der Verstand, die Formen der Dinge ohne die stofflichen Einzelheitsbestimmtheiten aufnimmt. Denn "ein jedes Ding wird so erkannt, wie seine Form im Erkennenden ist", d. h. aufgenommen ist. Was aber Formen ohne Stoff aufnimmt, ist selbst ohne Stoff. Die menschliche Seele ist also nicht aus Stoff und Form zusammengesetzt. (Fs) (notabene)

480a Hierbei ist folgendes zu beachten: 1. Die Beweisführung ruht auf dem Grundsatz, der auch schon in den vorhergehenden Artikeln angewandt worden ist: das Tätigsein folgt dem Sein und richtet sich nach ihm. Man kann also von dem Tätigsein als einer Wirkung auf das Sein, als auf seine Ursache schließen; die Beschaffenheit der Ursache wird aus der Beschaffenheit der Wirkung erkannt. Aus der unstofflichen Aufnahme- oder Tätigkeitsweise schließen wir auf die unstoflliche Seinsweise des Verstandes und weiterhin der substantiellen Wurzel des Verstandes, der Menschenseele. 2. Aus der Tatsache, daß wir mit dem Verstand die Natur der stofflichen Dinge, des Steines, des Menschen, ohne die Einzelheitsmerkmale, mit den Sinnen jedoch das mit seinen Einzelheitsmerkmalen verwachsene körperliche Ding erkennen, schließen wir, daß der Verstand die Formen der Dinge ohne die stofflichen Einzelheitsbestimmtheiten, der Sinn dagegen einzelbestimmte Formen aufnimmt. (Fs) (notabene)

480b Das Erkennen erweist sich unserem Zurückdenken allgemein als ein Aufnehmen und Besitzen von Formen. Unter diesen Formen sind — was wohl festzuhalten ist — nicht nur die Wesensformen der zu erkennenden Dinge zu verstehen. Denn der Verstand, der die Natur oder die Wesenheit der körperlichen Dinge ohne die stoffliche Vereinzelung erkennt, erkennt damit nicht bloß die Wesensform dieser stofflichen Dinge, etwa bloß die substantielle Form des Steines oder der Pflanze, unter Ausschluß des Wesensstoffes: "Zur Natur der Art gehört das, was durch die Wesensbestimmung ausgedrückt wird. Die Wesensbestimmung bezeichnet aber bei den Naturdingen nicht nur die Form, sondern Form und Stoff" (75, 4 Antw.; vgl. auch 79, 3 Antw.: "Wir erkennen durch den Verstand die Naturen oder die Formen der sinnfälligen Dinge"). Die Sinne können die Wesensform überhaupt nicht erkennen. Unter der Form, die das Erkennende aufnimmt, sind vielmehr die Bestimmtheiten, die Merkmale der Dinge zu verstehen. Denn jedes Erkennen geschieht durch die Merkmale, die das zu erkennende Ding bestimmen, es geschieht also durch die Bestimmtheiten desselben, durch seine Form, als den Inbegriff dieser Bestimmtheiten oder Merkmale. Es handelt sich ferner beim Erkennen auch nicht um ein seinsmäßiges Aufnehmen und Besitzen der Form, sondern um ein erkenntnismäßiges, gegenständliches (vgl. Anm. [4]). Bei der seinsmäßigen Aufnahme wird das Aufgenommene in den Untergrund, in das Subjekt aufgenommen, also versubjektiviert. Das Aufnehmende hat die Bestimmtheit oder Form in sich als die seinige. Bei der erkenntnismäßigen Aufnahme dagegen behält die aufgenommene Form ihr Anderssein. Das Erkennende, das ein von sich verschiedenes Ding erkennt, besitzt dessen Form als die Form dieses Dinges, sie steht ihm als etwas Anderes gegenüber. Das Wachs z. B., das die Siegelform seinsmäßig aufnimmt, hat die Siegelform nicht als die Form eines andern, sondern als die seine; denn es ist jetzt nach dieser Form geformtes Wachs. Was aber der die Siegelform Sehende sieht, ist keineswegs eine Form des Sehens oder des Sehenden, sondern die Form des Siegels als solche. Aus dem Wachs und der ins Wachs seinsmäßig aufgenommenen Siegelform entsteht ein Drittes: das geformte Wachs. Aus dem Erkenntnisvermögen (dem Sehvermögen) aber und der Siegelform, die in ihm ist als erkannte, entsteht nicht ein geformtes Erkenntnisvermögen als Drittes, sondern das Erkenntnisvermögen wird die Siegelform selbst, wird eins mit ihr. (Über Wurzel und Wesen des Erkennens vgl. S. 517 ff.) (Fs) (notabene)

481a Unter der Form also, die der Verstand aufnimmt und besitzt, indem er die Natur des körperlichen Dinges rein für sioh erkennt, sind die Wesensbestimmtheiten zu verstehen, die die Natur des Dinges ausmachen, unter Weglassung der Einzelheitsunterschiede, die der Verstand nicht erkennt. Und unter der Form, die als einzelbestimmte vom Sinn aufgenommen wird, indem er das Einzelding erkennt, sind die Körperbestimmtheiten zu verstehen, so wie sie am Körper in konkret ausgedehnter Weise sind. Der Einzelheitsunterschied kommt vom Stoff: wurzelhafter Grund der Einzelheit ist der durch die Ausdehnung bezeichnete Stoff (vgl. S. 486 ff.). Ihn kann die Verstandesseele (erkenntnismäßig) nicht aufnehmen, darum ist kein Stoff in ihr. Dagegen kann der Sinn die ausgedehnte Körperbestimmtheit aufnehmen, denn er ist ein stoffliches Vermögen, das einem körperlichen Organ in ausgedehnter Weise anhaftet. Freilich kann auch der Sinn nur "unstofflich" aufnehmen, sofern er die Form gegenständlich, erkenntnismäßig aufnimmt. Denn die Unstofflichkeit, die die Wurzel des Erkennens ist, läßt mehrere Stufen zu (vgl. S. 478). (Fs)

481b Indem Thomas in den vorliegenden Artikeln die menschliche Seele sozusagen äußerlich und innerlich als vom Stoff frei und unabhängig, als den selbständigen Träger der dem Menschen eigentümlichen Denktätigkeit und damit als eine geistige Substanz erweist, macht er gegen eine ganze Reihe von Ansichten Front, die in alter und in neuer Zeit über die Menschenseele aufgetaucht sind und mehr oder weniger Anklang gefunden haben. Die Materialisten z. B. leugnen die Geistigkeit der menschlichen Seele. Sie betrachten sie als einen feineren Körper (Demokrit, Empedokles), oder als eine Eigenschaft des Körpers (Hobbes, Lamettrie, Holbach, Büchner), oder als eine Wirkung des Körpers (die Gedanken sind eine Ausscheidung oder eine Phosphoreszenz des Gehirnes; Cabonis, Vogt, Moleschott). Die Vertreter der "Aktualitätstheorie" leugnen die Seelensubstanz: es gibt keine bleibende Seelensubstanz, kein bleibendes Ich (Seelenlehre ohne Seele). Die Seele besteht in der Aufeinanderfolge der Bewußtseinsvorgänge, der innerlichen Tätigkeiten des Erkennens und Strebens. Diese Lehre, die zuerst von Hume (+ 1776) aufgestellt wurde, hat in der Neuzeit großen Anklang gefunden. Viele Vertreter der Aktualitätstheorie nehmen im monistischen Sinne eine absolute Substanz, ein allgemeines Ich an, als Untergrund der Bewußtseinsvorgänge, und erklären das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, des Seelischen zum Körperlichen durch den psycho-physischen Parallelismus. Psychische und physische Vorgänge bilden zwei Reihen, deren Glieder in ihrer Aufeinanderfolge sich genau entsprechen, ohne daß ein ursächlicher Einfluß der einen Reihe auf die andere stattfände. Entweder wird das Psychische in das Physische aufgelöst (Haeckel, Münsterberg, Ziehen), oder das Physische in das Psychische (Hegel, Fechner, Schopenhauer, Wundt, Paulsen, Ed. v. Hartmann, Drews), oder Physisches und Psychisches werden als die zwei Seiten ein und desselben Dinges betrachtet: Identitätstheorie (Spinoza, Jodl, Riehl, Ebbinghaus, Bain, Spencer, Taine, Hööding) (vgl. GrPh 1, 349 ff., wo gegen die angeführten Theorien verteidigt wird, daß die vernünftige Seele bleibende, jedem Menschen eigene, geistige Einzelsubstanz ist). (Fs)

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