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Autor: Dorotheus, Gaza von

Buch: Die geistliche Lehre II

Titel: Die geistliche Lehre II

Stichwort: 3 Verfassungen im Umgang mit Leidenschaften

Kurzinhalt: Denn es gibt drei Verfassungen im Menschen: Entweder man läßt die Leidenschaft zur Tat werden, oder man zügelt sie, oder man reißt sie aus

Textausschnitt: 108. Denn es gibt drei Verfassungen im Menschen: Entweder man läßt die Leidenschaft zur Tat werden, oder man zügelt sie, oder man reißt sie aus. Wer die Leidenschaft zur Tat werden läßt, tut sie, befriedigt sie. Wer sie zügelt, läßt sie nicht zur Tat werden, reißt sie aber auch nicht aus. Er handelt klug und kommt an ihr vorbei, behält sie aber in sich. Wer dagegen die Leidenschaft ausreißt, kämpft und tut das, was ihr entgegengesetzt ist.
Diese drei Verfassungen haben aber eine große Bandbreite. Nehmen wir ein Beispiel. Was wollt ihr, welche Leidenschaft sollen wir untersuchen? Wollt ihr, daß wir etwas über den Hochmut sagen? Über die Unzucht? Oder wollt ihr lieber, daß wir über die Ruhmsucht sprechen, weil wir ihr doch auf allerlei Weise erliegen?
Wer von Ruhmsucht befallen ist, kann kein Wort von seinem Bruder ertragen. Es kommt vor, daß er ein einziges Wort hört und sich aufregt. Er sagt fünf Worte oder zehn auf das eine Wort, er wütet und verletzt. Und wenn er mit dem Wüten aufgehört hat, denkt er ständig Böses über den, der jenes Wort gesagt hat. Er trägt es ihm nach, und es tut ihm leid, daß er ihm nicht noch mehr entgegnet hat. Er legt sich noch schlimmere Worte zurecht, um sie ihm zu sagen, und denkt immerzu: "Warum habe ich nicht das und das zu ihm gesagt? Das muß ich ihm auch noch sagen", und ist immer noch wütend.
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109. Wir wollen auch über die sprechen, die die Leidenschaft zügeln. Da ist einer, der ein Wort hört und innerlich verletzt ist. Allerdings ist er nicht traurig, weil er beleidigt wurde, sondern weil er es nicht ertrug (sc. daß er beleidigt wurde).

210 Er hat die Verfassung derer, die kämpfen, die die Leidenschaft zügeln. Ein anderer kämpft und müht sich ab, später aber wird er von der ihn bedrückenden Leidenschaft besiegt. Ein anderer will zwar nicht böse antworten, läßt sich aber von der Gewohnheit dazu hinreißen. Ein anderer kämpft zwar, daß er kein böses Wort sagt, ist aber traurig, daß er beleidigt wurde. Allerdings klagt er sich selbst dafür an, daß er traurig ist, und tut deswegen Buße. Wieder ein anderer ist zwar nicht traurig, daß er beleidigt wurde, freut sich aber auch nicht.
Seht, diese alle gehören zu denen, die die Leidenschaft zügeln. Zwei unter ihnen unterscheiden sich von den übrigen: der, der im Kampf unterlag, und der, der von der Gewohnheit mitgerissen wurde. Denn sie leben in Furcht vor der Gefahr, daß sie Leidenschaft zur Tat werden lassen. Aber ich zähle auch sie zu denen, die die Leidenschaft zügeln, denn ihrer Absicht nach zügeln sie sie und wollen sie nicht zur Tat werden lassen; vielmehr sind sie traurig und kämpfen. Die Väter haben aber gesagt, daß jede Sache, die die Seele nicht will, nur von kurzer Dauer ist.2" Solche Brüder müssen sich aber prüfen, wie sie, wenn auch nicht die Leidenschaft selbst, so doch irgend etwas von den
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Ursachen für die Leidenschaften befriedigen und deshalb besiegt und mitgerissen werden. Es gibt aber welche, die sozusagen kämpfen, daß sie die Leidenschaft zügeln, aber mit Hilfe einer (sc. anderen) Leidenschaft: Der eine schweigt nämlich aus Ruhmsucht, der andere aus Gefallsucht bei den Menschen oder aus irgendeiner anderen Leidenschaft heraus. Solche bekämpfen das Böse durch Böses. Abbas Poimen hat aber gesagt: "Schlechtigkeit kann niemals Schlechtigkeit beseitigen."212 Die so handeln, gehören zu denen, die die Leidenschaft zur Tat werden lassen, auch wenn sie sich darüber täuschen.
110. Nun wollen wir schließlich etwas über die sagen, die die Leidenschaft ausreißen.
Da ist einer, der sich freut, wenn er beleidigt wird, aber deswegen, weil er einen Lohn dafür erhalten wird. Er gehört zwar zu denen, die die Leidenschaften ausreißen, aber nicht mit Unterscheidung. Ein anderer freut sich, daß er beleidigt wurde, und meint, daß es so kommen mußte, weil er selbst den Grund dazu gab. Er reißt mit Unterscheidung die Leidenschaft aus; denn beleidigt werden, sich selbst die Schuld dafür geben und sich selbst zuschreiben, was einem geschehen ist, ist ein Tun mit Unterscheidung. Denn jeder, der zu Gott betet: „Herr, gib mir Demut", muß wissen, daß es das ist, was er erbittet: daß Gott ihm jemanden schicke, der ihn beleidigt. Wenn er nun beleidigt wird, muß er sich auch selbst in seinem eigenen Denken beleidigen und verachten, damit jener ihn von außen demütige und er selbst sich von innen. Ein anderer freut sich nicht nur, wenn er beleidigt wird, und gibt sich selbst die Schuld, sondern ist auch noch traurig über die Aufregung dessen, der ihn beleidigt. Gott helfe uns zu so einer Verfassung!
111. Seht, wie groß die Bandbreite dieser drei Verfassungen ist! Jeder von uns möge nun, wie gesagt, erkennen, in welcher Verfassung er sich befindet: ob er noch immer die Leidenschaft zur Tat werden lassen und befriedigen will, oder ob er ihr zwar nicht folgen will, aber von ihr besiegt
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oder von der Gewohnheit mitgerissen sie ausführt und, nachdem er sie ausgeführt hat, bedrückt ist und Buße tut, weil er sie ausgeführt hat? Oder kämpft er damit, die Leidenschaft mit Unterscheidung zu zügeln, oder kämpft er mittels einer anderen Leidenschaft? Denn wir sagten ja: Jemand kann schweigen aufgrund von Ruhmsucht, aus Gefallsucht oder schlicht aus irgendeinem menschlichen Grund. Oder hat er begonnen, die Leidenschaft auszurei-ßen? Reißt er sie mit Unterscheidung aus, und tut er das der Leidenschaft Entgegengesetzte? Jeder erkenne, wo er steht, bei welcher „Meile" er sich befindet.
Denn wir müssen uns nicht nur täglich erforschen213, sondern auch jedes Jahr, jeden Monat214 und jede Woche und uns sagen: „Die erste Woche wurde ich von der und der Leidenschaft geplagt, und wo stehe ich jetzt?" Ähnlich sage man sich jedes Jahr: „Letztes Jahr wurde ich von der und der Leidenschaft besiegt; wie steht es jetzt?" So müssen wir uns jedesmal erforschen, ob wir ein klein wenig Fortschritte machen, ob wir auf der Stelle treten oder zum Schlechteren abgefallen sind.
112. Gott gebe uns Kraft, damit wir, wenn wir die Leidenschaft schon nicht ausreißen, sie doch wenigstens nicht zur Tat werden lassen, sondern sie zügeln. Denn es ist wirklich eine schwerwiegende Sache, die Leidenschaft zur Tat werden zu lassen und nicht zu zügeln. Ich sage euch ein Beispiel, wem jemand gleicht, der die Leidenschaft zur Tat werden läßt und sie befriedigt: Er gleicht einem Menschen, der von seinem Feind angeschossen wird und in seinen Händen die Pfeile hält und sie in sein eigenes Herz hineinstößt. Wer die Leidenschaft zügelt, gleicht einem, der von seinem Feind niedergeschossen wird, aber eine Rüstung trägt, so daß das Geschoß nicht eindringen kann. Wer dagegen die Leidenschaft ausreißt, gleicht einem, der angegriffen wird und die Geschosse erwartet, sie zerbricht oder
14 Vgl. JOHANNES CHRYSOSTOMUS, hont, in lo. 83 (PG 59,454).
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sie wieder umdreht in das Herz des Feindes, wie es im Psalm heißt: „Ihr Schwert dringe in ihr eigenes Herz, und ihre Bogen sollen zerbrechen" (Ps 37,15: LXX PS 36,15).2'5 Auch wir wollen uns nun eifrig bemühen, Brüder, selbst wenn wir noch nicht ihr Schwert in ihr eigenes Herz umwenden können: daß wir doch nicht ihre Geschosse nehmen und uns selbst ins Herz stoßen, sondern uns wappnen, damit wir nicht von ihnen verletzt werden! Der gute Gott behüte uns vor ihnen! Er gebe uns Wachsamkeit und führe uns auf seinem Weg! Amen.

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