Autor: Voegelin, Eric Buch: Autobiographische Reflexionen Titel: Autobiographische Reflexionen Stichwort: Entfremdung - Musil, Doderer (Apperzeptionsverweigerung); Begriff: zweite Realität; Hegel (Sinneswahrnehmung) Kurzinhalt: ... das formale Frageverbot; Diagnose: welcher Teil der Realität ausgespart wird, Beschränkung der Auffassung vom Bewußtsein auf die Wahrnehmung von Gegenständen der äußeren Realität Textausschnitt: 14/22 Von beträchtlicher Hilfe bei dem Versuch, die Prozesse der Deformation zu verstehen, waren die Beobachtungen der großen österreichischen Schriftsteller, insbesondere Albert Paris Güterslohs, Robert Musils und Heimito von Doderers. Sie prägten den Begriff zweite Realität, um die Auffassung von Realität zu beschreiben, die Menschen in einem Zustand der Entfremdung entwickeln. Oberstes Merkmal dieses Entfremdungszustands, der durch die von der Erfahrung der Realität klar zu unterscheidenden Phantasiewelten der zweiten Realität aufrechterhalten wird, ist das, was Doderer die Apperzeptionsverweigerung nannte. Der Begriff tritt in der Erzählung Die Dämonen auf, und ich freue mich jedesmal darüber, daß Doderer ihn bei der Erörterung bestimmter sexueller Verirrungen einführte. Formal wird der Begriff Apperzeptionsverweigerung in der Vorbemerkung zu dem Kapitel 'Die dicken Damen' entwickelt. Es geht um dicke Damen, für die einer der Helden eine besondere Vorliebe hat. (119; Fs)
15/22 Die Weigerung der Apperzeption ist für mich zu einem der zentralen Begriffe im Verständnis ideologischer Verirrungen und Deformationen geworden. Sie tritt in verschiedenen Varianten in Erscheinung, von denen die historisch interessanteste das formale Frageverbot ist, so wie es Comte und Marx forderten. Wenn jemand die ideologische Doktrin durch Fragen nach dem göttlichen Grund der Realität in Frage stellt, so wird er von Comte darüber aufgeklart, daß er keine eitlen Fragen ('questions oiseuses') stellen soll, und von Marx bekommt er zu hören, daß er schweigen und ein 'sozialistischer Mensch' werden soll ('Denke nicht, frage mich nicht'). (119; Fs)
16/22 Diese Haltung - Fragen bezüglich der eigenen Prämissen nicht zuzulassen, Fragen, die sofort das System zum Einsturz bringen würden - stellt die generelle Taktik dar, mit der Ideologen Diskussionen führen. In den zahlreichen Gesprächen beispielsweise mit Hegelianern bin ich regelmäßig an dem Punkt angelangt, wo es galt, die Prämissen der entfremdeten Existenz in Frage zu stellen, die Hegels Gedankengebäude zugrundeliegen. Jedesmal, wenn dieser Punkt erreicht ist, werde ich von dem betreffenden Hegelianer darüber aufgeklärt, daß ich Hegel nicht verstehe und daß ich ihn auch nur verstehen könne, wenn ich seine Prämissen akzeptiere ohne sie in Frage zu stellen. Begreift man das Frageverbot als wichtigste Strategie in allen ideologisch geführten Debatten, dann hat man zumindest ein wichtiges Kriterium zur Diagnose von Ideologien ermittelt: der Zweck der Diagnose besteht darin, zu bestimmen, welcher Teil der Realität ausgespart wurde, damit die Konstruktion eines trügerischen Systems möglich wird. Welcher Bereich der Realität ausgeklammert wird, kann sehr unterschiedlich sein, stets muß jedoch die Erfahrung der Spannung des Menschen zum göttlichen Grund ausgeklammert werden. (119f; Fs)
17/22 Hat man erst einmal erkannt, daß die Erfahrung der existentiellen Spannung die entscheidende Erfahrung ist, die ein Ideologe auszuklammern hat, wenn er seine eigene Entfremdung zum obligatorischen Zustand für jedermann erheben will, dann rückt das Problem des Bewußtseins dieser Spannung ins Zentrum der philosophischen Reflexion. Das Verstehen sowohl der klassischen als auch der christlichen Philosophie sowie der ideologischen Deformierungen der Existenz setzen das Verstehen des Bewußtseins in der Fülle seiner Dimensionen voraus. Charakteristisch für das, was man 'moderne Auffassung des Bewußtseins' nennen könnte, ist die Anlehnung an das Modell der Sinneswahrnehmung von Objekten der äußeren Realität. Diese Beschränkung der Auffassung vom Bewußtsein auf die Wahrnehmung von Gegenständen der äußeren Realität wird im 19. Jahrhunden zum mehr oder weniger versteckten Kunstgriff beim Entwurf von Systemen. (120; Fs)
18/22 Selbst im Herzstück der Hegel'schen Philosophie, in der Phänomenologie, läßt sich feststellen, daß er mit der Sinneswahrnehmung beginnt und auf dieser Basis alle komplizieneren Strukturen des Bewußtseins entwickelt. Der Fall ist bemerkenswert, weil Hegel einer der größten Kenner der Philosophiegeschichte war; selbstverständlich wußte er, daß die Primärerfahrungen des Bewußtseins, wie sie in den Arbeiten der klassischen Philosophen beschrieben werden, nichts mit Sinneswahrnehmungen zu tun haben, sondern mit der Erfahrung von Strukturen (beispielsweise mathematischer Strukturen) sowie mit der Erfahrung des Hinwendens zum göttlichen Grund der Existenz, was durch das Ziehen eben dieses Grundes ausgelöst wird. (120; Fs)
19/22 Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, daß ein Mann mit so großem historischen Wissen wie Hegel absichtlich die unmittelbaren Erfahrungen des Bewußtseins ignoriene und sie durch die hochabstrakten, historisch sehr späten Modelle der Wahrnehmung von Objekten in der externen Welt ersetzte, um ein System glaubwürdig zu machen, das nur den eigenen Zustand der Entfremdung zum Ausdruck bringt. Mir ist keine Stelle bei Hegel bekannt, an der er über die eigene Technik des Betruges reflektierte. Diese Technik wurde jedoch deutlich im Werk von Marx, und zwar in den Pariser Manuskripten von 1844. (121; Fs)
20/22 Wenn die Erfahrung von Objekten in der äußeren Welt zur allgemeinen Struktur des Bewußtseins verabsolutiert wird, dann werden automatisch alle geistigen und intellektuellen Phänomene ausgeklammert, die mit den Erfahrungen des göttlichen Grunds verknüpft sind. Da sie jedoch nicht völlig negiert werden können - da sie trotz allem die Geschichte des Menschen ausmachen -, müssen sie zu Aussagen über eine transzendente Realität verformt werden. Diese Deformation der von den Philosophen und Propheten geschaffenen Symbole stellt eines der entscheidendsten Phänomene in der Geschichte der Menschheit dar. In der scholastischen Philosophie stoßen wir bis bereits auf einen hohen Grad an Deformation, der im Übergang zur modernen Metaphysik durch Descartes verfestigt wird und schließlich durch die ideologischen Denker in Form einer Art zweiter Orthodoxie fortgeführt wird. Daß propositionale Metaphysik eine Deformation der Philosophie darstellt, die von den doktrinären Ideologien beständig fongeführt wird, gehön meiner Meinung nach zu den wichtigeren Entdeckungen, die ich im Rahmen meiner Arbeiten gemacht habe. (121; Fs)
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