Autor: Aristotles Buch: Nikomachische Ethik Titel: Nikomachische Ethik Stichwort: Freund, Freundschaft; der Freund als zweites Selbst Kurzinhalt: Der Tugendhafte findet auch Gefallen an dem Verkehr mit sich selbst ... Der schlechte Mensch verlangt nach Gesellschaft und flieht vor sich selbstt; in der Einsamkeit kommen ihm viele böse Erinnerungen (15) und nicht minder schlimme Ängste, ... Textausschnitt: 15/9 Der Tugendhafte findet auch Gefallen an dem Verkehr mit sich selbst; denn daraus fließt ihm reiche Lust. Die Erinnerungen an seine Vergangenheit sind angenehm und die Hoffnungen (25) auf seine Zukunft gut, solche Hoffnungen aber gewähren Lust; auch findet er in seinem Geist immer Stoff zu wahren und nützlichen Betrachtungen. - Endlich teilt er Leid und Freude am meisten mit sich selbst: allezeit ist ihm dasselbe lieb und leid, und nicht bald dies, bald das. Denn er ist sozusagen über die Reue erhaben. Da sich nun alle diese Momente bei dem Tugendhaften im Verhältnis zu sich (30) selbst finden, und da er gegen seinen Freund wie gegen sich selbst gesinnt ist - ist doch der Freund ein zweites Selbst -, so scheint auch die Freundschaft eines von diesen Dingen zu sein und Freunde diejenigen, bei denen sich diese Dinge finden. Ob es aber eine Freundschaft mit sich selbst gibt oder nicht, bleibe für jetzt dahingestellt. Man kann dann sagen, daß eine besteht, wenn zwei oder mehrere der angegebenen (35) Momente irgendwo vorhanden sind; auch das spricht dafür, daß das höchste Maß der Freundschaft der Liebe gleicht, die (1166b) man zu sich selbst hat. (216f; Fs) (notabene)
16/9 Die genannten Momente finden sich scheinbar auch bei der großen Menge, mag sie auch schlecht sein. Hat man nun wirklich teil an ihnen, insofern als man an sich selbst Gefallen findet und sich für vortrefflich hält? Daß kein (5) vollendeter Bösewicht und Übeltäter sie hat, auch nicht dem Schein nach sie hat, ist ja selbstverständlich. Aber das gleiche gilt wohl auch so ziemlich von schlechten Menschen überhaupt. Sie liegen mit sich selbst im Zwiespalt, und ihre sinnliche Gier steht nach anderen Dingen als ihr vernünftiger Wille, wie es bei den Unenthaltsamen der Fall ist. Sie ziehen dem, was sie selbst als gut ansehen, das Lustbringende, das ihnen schädlich ist, vor. Andere wieder scheuen sich aus Feigheit (10) und Trägheit, das zu tun, was nach ihrer eigenen Überzeugung das Beste für sie wäre. Die aber in ihrer Schlechtigkeit viele schwere Verbrechen begangen haben, hassen und fliehen das Leben und enden durch Selbstmord. - (217; Fs) (notabene)
18/9 Der schlechte Mensch verlangt nach Gesellschaft und flieht vor sich selbst; in der Einsamkeit kommen ihm viele böse Erinnerungen (15) und nicht minder schlimme Ängste, die er in Gesellschaft anderer vergißt; da er nichts Liebenswertes an sich hat, so kann er auch nicht mit sich selbst in Freundschaft leben. - Auch teilt ein solcher Mensch ebensowenig Freude wie Leid mit sich selbst. Seine Seele ist in Aufruhr; der eine Teil von (20) ihr empfindet aus Schlechtigkeit Schmerz über Entbehrungen, der andere freut sich darüber, und der eine Teil zieht die Seele hierher, der andere dorthin, als sollte sie zerrissen werden. Und wenn es nicht möglich ist, gleichzeitig Unlust und Lust zu empfinden, so ärgert man sich doch kurz danach über die empfundene Freude und möchte sie lieber (25) nicht empfunden haben. Denn böse Menschen sind übervoll von Reue. So sieht man also, daß der böse Mensch nicht einmal gegen sich selbst freundschaftlich gesinnt ist, weil er nichts Liebenswertes an sich hat. Wenn demnach solch ein Zustand überaus unglücklich ist, so muß man mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft das Laster fliehen und die Tugend zu erwerben suchen. Dann wird man mit sich selbst in Freundschaft leben und auch eines anderen Freund werden. (217f; Fs) (notabene)
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