Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert) Buch: Der heilige Thomas von Aquin Titel: Der heilige Summa von Aquin Stichwort: Arten des Begehrungsvermögens: sinnlich - vernünftig; Wahrnehmungsvermögen - Begehrungsvermögen (nur 1 Wille) Kurzinhalt: Die Unterscheidung zwischen dem begehrten Ding, dem Begehrenswerten im konkreten Zustand und dem abstrakten Grund des Begehrenswerten muß man festhalten ... der Mensch alle drei Glieder dieser Unterscheidung in sich vereinigen, denn er ist zugleich ... Textausschnitt: Die Arten des Begehrungsvermögens
1849 Da der heilige Thomas das Erkenntnisvermögen in Sinnlichkeit und Verstand unterschieden hat, muß er dementsprechend auch das Begehrungsvermögen in ein sinnliches und ein geistiges Begehrungsvermögen unterscheiden. 'Das Begehrungsvermögen ist ein passives ["leidendes"] Vermögen, zu dessen Natur es gehört, daß es durch das wahrgenommene Gut bewegt wird. Deshalb hat Aristoteles gesagt, das wahrgenommene Gut sei ein unbewegter Beweger, das Begehrungsvermögen dagegen sei ein bewegter Beweger1. (525; Fs)
1850 Nun unterscheidet sich das Leidende und das Bewegte als solches so wie das Tätige und das Bewegende; denn das Bewegende muß im Verhältnis zum Bewegten, und das Tätige im Verhältnis zum Leidenden stehn, und überdies gewinnt das leidende Vermögen seinen Charakter gerade aus seiner Beziehung zu einem Tätigen. Wenn also der durch den Geist wahrgenommene Gegenstand als solcher zu einer andern Ordnung gehört als der durch den Sinn wahrgenommene, so folgt daraus, daß das geistige Begehrungsvermögen ein anderes ist als das sinnliche Begehrungsvermögen2.' (525f; Fs)
1851 Diese Bemerkung wird noch klarer, wenn wir den Vergleich des blinden Begehrungsvermögens mit dem erkennenden in seiner doppelten Form noch einmal aufnehmen. 'In jedem begehrten Gegenstand kann man zwei Dinge betrachten: das Ding, selbst, das begehrt wird, und den Grund, weshalb es begehrt wird, das heißt die Lust, den Nutzen usw. Nun strebt das natürliche Begehrungsvermögen nach dem begehrten Gegenstand, ohne daß in ihm etwas der Begehrbarkeit dieses Gegenstandes entspräche; denn das natürliche Begehrungsvermögen ist nichts anderes als eine passive Neigung, eine Hinordnung auf das, was ihm angemessen ist; so ist es beim Fallen des Steins. (526; Fs)
1852 Da nun jedes Naturding in seinem Sein bestimmt ist, so ist auch seine Neigung zu diesem Gegenstand bestimmt, und es braucht daher nicht die Erkenntnis, die ihm die Begehrbarkeit innerlich vorstellt, um das Begehrenswerte von dem Nicht-Begehrenswerten zu unterscheiden. Das tut der 'große Lehrer der Natur', der jedem Wesen sein eigenes, ihm angemessenes Streben verliehn hat. (526; Fs)
1853 Das höhere Begehrungsvermögen dagegen, der Wille, strebt direkt auf den Grund der Begehrbarkeit in seiner Absolutheit hin, so wenn der Wille zuerst und vor allem das Gute will, oder auch noch den Nutzen, oder irgend etwas Ähnliches, während er dieses besondere Ding mit einem abgeleiteten Willen - in zweiter Linie - will, insofern es an dem Charakter des Guten teilhat. (526; Fs)
1854 Der Grund dafür liegt darin, daß die vernünftige Natur eine so große Empfänglichkeit besitzt, daß ihr die Hinwendung zu einem bestimmten Gegenstand nicht genügt: sie braucht ihrer mehrere und mannigfaltige; darum ist sie von Natur aus auf etwas Allgemeines hin gerichtet, das sich in mehreren einzelnen Dingen verwirklicht, und auf Grund der Erfassung dieses allgemeinen Gegenstandes strebt sie zu den einzelnen Gegenständen hin, an denen sie dessen Erkennungszeichen findet. (526; Fs) (notabene)
1855 Das niedere oder sinnnliche Begehrungsvermögen strebt nach dem begehrenswerten Gegenstand, insofern sich in ihm das findet, was den Grund der Begehrbarkeit ausmacht, ohne daß jedoch dieser Grund selbst ihm erscheint. Das niedere Begehrungsvermögen strebt weder nach der Güte, noch nach dem Nutzen, noch nach der Lust an sich, sondern nach diesem nützlichen oder angenehmen Gegenstand. (526f; Fs) (notabene)
1856 Insofern steht das sinnliche Begehrungsvermögen unter dem vernünftigen; insofern es jedoch nicht nach diesem oder jenem Ding allein strebt, sondern nach allem, was nützlich oder angenehm ist, steht es über dem natürlichen Streben; [sic] eben darum aber bedarf es auch der Erkenntnis, durch die es das Angenehme von dem Unangenehmen zu unterscheiden vermag3.' (527; Fs)
1857 Diese Erklärungen, die von der Stufenleiter der Seinswesen ausgehn, kommen bei Thomas öfters wieder; sie erklären vollkommen die vorliegende Frage. Die Unterscheidung zwischen dem begehrten Ding, dem Begehrenswerten im konkreten Zustand und dem abstrakten Grund des Begehrenswerten muß man festhalten; besser kann man in drei Worten nicht die Seinslehre über das Streben zusammenfassen. (527; Fs) (notabene)
1858 Übrigens muß der Mensch alle drei Glieder dieser Unterscheidung in sich vereinigen, denn er ist zugleich Naturgegebenheit, sinnlich empfindendes Wesen und vernünftiges Geschöpf. Seine vegetative Tätigkeit sowie die elementaren Eigentümlichkeiten, die diesen dienen, offenbaren die Gesetze des Naturstrebens; seine animalischen Tätigkeiten bedienen sich des sinnlichen Begehrungsvermögens, sein höheres Leben aber wird beherrscht durch das vernünftige Begehrungsvermögens4. (527; Fs)
1859 Niemals läßt Thomas sich auf jenen voluntaristischen Monismus ein, der jede Grenze zwischen dem unbewußten Naturstreben, dem sinnlichen Begehren und dem vernünftigen Willen aufheben möchte. Wenn sie auch vereinigt sind in dem Begriff des strebenden Seins, dessen verschiedenartige Äußerungen sie sind, so sind sie darum doch nicht aufeinander zurückführbar. Hier muß man, wie überall, an dem rein analogen Charakter der grundlegenden Arten von Teilnahme am Sein festhalten [ens dicitur multipliciter]. (527; Fs)
1860 In bezug auf das sinnliche und vernünftige Begehrungsvermögen, auf die Thomas allein Nachdruck legt, erhebt sich die Frage, ob sie sich unterteilen lassen oder ihre Einheit bewahren, sei es beide, sei es wenigstens das eine von ihnen. Hierüber wird die folgende Erörterung Licht verbreiten. (527f; Fs)
1861 Wir wissen, daß 'der Akt der Begehrungsvermögen den der Wahrnehmungsvermögen voraussetzt, daß darum die Unterscheidung dieser für die Unterscheidung jener maßgebend sein muß. Nun finden wir bei den Wahrnehmungsvermögen, daß das höhere Vermögen gegenüber den gleichen Gegenständen eins und unteilbar bleibt, daß aber die niedern Vermögen sich teilen. Es ist das selbe geistige Vermögen, das sich auf alle sinnlichen Dinge richtet [das heißt, insoweit diese das geistige Vermögen angehn, nämlich in Hinsicht auf ihre Natur], während sich das sinnliche Vermögen ihnen gegenüber teilt [...] (528; Fs)
1862 Genau so verhält es sich mit den Begehrungsvermögen; der Grund ist in beiden Fällen der gleiche: das höhere Vermögen hat einen allgemeinen Gegenstand, die niedern Vermögen dagegen haben besondere Gegenstände. Viele Dinge sind nun in Hinsicht auf das Besondere wesentlich, während sie in Hinsicht auf das Allgemeine zufällig sind, und da nun ein zufälliger Unterschied die Art nicht ändert, während ein wesentlicher sie ändert, so ergibt sich, daß gegenüber den gleichen materiellen Wirklichkeiten die Kräfte der niedern Ordnung vielfach sind, während die Kraft einer höhern Ordnung nur eine ist5.' (528; Fs) (notabene)
1863 So gibt es also nur einen Willen, weil der Wille zum Gegenstand das Gute im Allgemeinen hat, während es in dem Tier oder in dem nach seiner animalischen Natur betrachteten Menschen sinnliche Begehrungsvermögen verschiedener Art gibt. Sprechen wir zunächst über die letzteren. (528; Fs) ____________________________
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