Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert) Buch: Der heilige Thomas von Aquin Titel: Der heilige Summa von Aquin Stichwort: Wille; Erkenntnis: Bedingung u. Gegenstand d. Strebens; Naturform - intentionale Form; Gesichtspunkt: Zielstrebigkeit, Tun (quantum ad exercitium) - Wesenheit (quantum ad specificationem) Kurzinhalt: Das Gute ist das erste unter dem Gesichtspunkt der Zielstrebigkeit, und infolgedessen unter dem Gesichtspunkt des Tuns ... Unter dem Gesichtspunkt der Wesenheit dagegen, die den Akt artlich bestimmt [quantum ad specificationem], ist das Wahre ... Textausschnitt: 1838 Es ist indes zu bemerken, daß auch das Erkennen selbst, das auf seine Art ein Gut, ein Reichtum an Sein, eine Teilnahme an der Form eines Andern und das Ergebnis einer angleichenden Synthese ist, in dieser Hinsicht den Charakter des Begehrenswerten hat. Die Erkenntnis als solche ist eine Bedingung des Strebens; allein insofern sie ein Gut ist, ist sie ein Gegenstand des Strebens, und kein geistiger oder sinnlicher Akt würde entstehn, wenn die durch sie eingeführte Form nicht eine Antwort auf einen Ruf der Seele darstellt. (523; Fs)
Kommentar (14.10.11): Cf. Lonergan und Wille.
1839 Wir haben sehr genau unterschieden zwischen der Naturform eines jeden Dinges und jener Form zweiten Grades, die wir intentionale Form nennen1. Zwischen beiden ist ein so grundsätzlicher Unterschied, daß eine intentionale Angleichung die Erkenntnis ausmacht, während eine reale Angleichung die Erkenntnis gerade verhindert; darauf beruht die Notwendigkeit, das erkennende Vermögen von den Bestimmtheiten seines Gegenstandes abzulösen, und ebenso die Unfähigkeit zur Erkenntnis bei jenen Wesen, die nur diese Art von Bestimmtheit aufzunehmen vermögen2. (523; Fs)
1840 Doch wie relativ und teilhaft auch die durch die Erkenntnis verwirklichte Synthese sein mag, sie ist eine; sie wird [mit allem Andern] umfangen von dem allgemeinen Charakter des Guten, das identisch mit dem Sein ist; unter diesem Gesichtspunkt ist es also ganz richtig zu sagen, das Wahre sei in dem Guten enthalten oder [besser gesagt] der Gegenstand der Erkenntnis sei enthalten in dem Gegenstand des Strebens, wenn auch unter einem andern Gesichtspunkt umgekehrt das Gute in dem Wahren und der Gegenstand des Strebens in dem der Erkenntnis enthalten ist. (523; Fs)
1841 Das Gute ist das erste unter dem Gesichtspunkt der Zielstrebigkeit, und infolgedessen unter dem Gesichtspunkt des Tuns [quantum ad exercitium]; denn was bewegt, ist das Tätige, und das Tätige handelt in Hinsicht auf ein Ziel, das ein Gut darstellt: es ist also in diesem Fall das Gute, das den Vorrang hat; unter dem Gesichtspunkt der Tätigkeit oder der Untätigkeit der Seele erklärt das Streben die Erkenntnis, und nicht die Erkenntnis als solche das Streben3. (523f; Fs) (notabene)
1842 Unter dem Gesichtspunkt der Wesenheit dagegen, die den Akt artlich bestimmt [quantum ad specificationem], ist das Wahre das erste; man begehrt nur, was man erkannt hat. 'Jede große Liebe ist die Tochter einer großen Erkenntnis' - [ignoti nulla cupido]. Die Form bewegt nicht aus sich selbst; aber sie bestimmt die Bewegung, und da es keine allgemeine, unbestimmte Bewegung gibt, ist also in dieser Hinsicht die Erkenntnis das erste. (524; Fs) (notabene)
1843 Dieser Dualismus, der in der Natur ein verwickeltes Wechselspiel darbietet, löst sich auf in Gott, in dem jener Rückgang bis ins Unendliche [processus in infinitum], der sich daraus ergibt, daß das Streben die Erkenntnis und die Erkenntnis das Streben voraussetzt, aufgehoben ist. (524; Fs) (notabene)
1844 Was ohne vorherige Erkenntnis will, das erkennt durch Gott: es ist ein Licht, das kein Licht hat. Und was ohne vorheriges Wollen erkennt, das will durch Den, der ihm den ersten Akt des Erkenntnisvermögens verleiht4. (524; Fs) (notabene)
1845 Aus der Tatsache, daß das den erkennenden Wesen eigene Begehrungsvermögen - so wie jedes Begehrungsvermögen - sich durch den strebenden Charakter der Formen erklärt, ferner daraus, daß die Form, die das Prinzip der Erkenntnis und dadurch des Wollens ist, eine erfaßte und nicht eine dem tätigen Prinzip natürliche Form ist, ergibt sich als grundlegende Folgerung, daß die blinden Strebungen der Natur sich direkt auf das Gute an sich beziehn, daß aber das erkennende Begehrungsvermögen sich auf das erfaßte Gut richtet, insofern es erfaßt ist, dergestalt, daß das, was als ein Gut vorgestellt wird - auch wenn es in Wirklichkeit keines wäre -, doch eine bewegende Kraft entfalten wird. Daher sagt Aristoteles, das, was in der Form des Zweckes bewegt, sei das Gute oder etwas, was als gut erscheint5. Die moralischen und psychologischen Folgen sind unübersehbar. (524; Fs)
1846 Des weitern folgt, daß der Wille sich auf das gedachte wie auf das wirkliche Sein richten kann, auf die Verneinung wie auf die Bejahung, auf die Zukunft wie auf die Gegenwart, auf das Nichts wie auf das Sein; all dies kann ja in der Wahrnehmung den Charakter des Guten annehmen und darum bewegende Kraft werden6. Ein natürliches Streben dagegen kann nie auf die Zukunft als solche, nie auf das gedachte Sein, nie auf das Nichts gehn, weil es dann keine Form hätte, die es erklärt. (525; Fs)
1847 Die natürliche Form, auf Grund deren das Sein strebt, ist ihm gegeben von seiner natürlichen Umwelt; man muß daher in dieser Umwelt finden, was sie selbst enthält. Das ist der Sinn des metaphysischen Prinzips: das natürliche Streben kann nicht umsonst sein [desiderium naturae non potest esse inane], ein Prinzip, das uns seinen tiefsten Sinn enthüllt, wenn wir daran denken, daß die natürliche Umwelt Gott einschließt. (525; Fs)
1848 Das vernünftige oder sinnliche Streben dagegen findet seine unmittelbare Erklärung in der Erkenntnis, das heißt in dem, was 'erscheint', insofern es erscheint, und da hier Raum für den Irrtum ist, rückt die Sicherheit der Natur in die Ferne. Wenn man darum von einem Verlangen auf eine Realität schließen will, so muß man über die Erfassung hinaus hinabsteigen zu dem natürlichen Streben. (525; Fs) ____________________________
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