Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert) Buch: Der heilige Thomas von Aquin Titel: Der heilige Summa von Aquin Stichwort: Das Wollen und die Tätigkeit; Begehrungsvermögen (allgemein); Wille (Ablehnung - Überbetonung d. Ws); Thomas: Wille, Form, Neigung; appetitus naturalis - W. (geisiges Streben); Schwerkraft des nach d. Fülle strebenden Seins Kurzinhalt: In der Erkenntnis werde ich ein Anderes, und dieses Andere in mir strebt nach seinem Sein, seiner Vollendung, seinem Gut; denn ... Wenn also in der Erkenntnis die Form eines Andern meine Naturform wird, so muß diese Form in mir nach ihrer Vollendung ... Textausschnitt: SECHSTES Buch: Das Wollen und die Tätigkeit
Erstes Kapitel: Vom Begehrungsvermögen im allgemeinen
1817 IN BEZUG AUF DEN Willen haben sich immer zwei Standpunkte mehr oder weniger schroff gegenübergestanden; sie tun es auch in der Philosophie der Gegenwart. Der erste lehnt den Willen als eine besondere Wirklichkeit oder auch nur als einen ursprünglichen Gesichtspunkt ab; der zweite sieht dagegen im Willen den Ausgangspunkt alles bewußten Lebens, das er zuletzt nach all seinen Beziehungen auf den Willen zurückführen möchte. (519; Fs)
1818 Die Stellung des heiligen Thomas zwischen diesen beiden einander entgegengesetzten Standpunkten ist ebenso durch seine Seinslehre wie durch seine Erkenntnislehre festgelegt. 'Aus jeder Form folgt eine natürliche Neigung; so verbreitet das Feuer die Wärme, so folgt das Lebewesen einem Entwicklungsplan und strebt danach, ein Gleiches hervorzubringen. (519; Fs)
1819 Allein das mit Erkenntnis begabte Wesen verwirklicht die Form in einer höhern Weise als die der Erkenntnis entbehrenden Wesen. Bei diesen letzteren bestimmt die Form das eigene und natürliche Sein dessen, der sie besitzt; daraus folgt eine Neigung, die ein natürliches Begehren [appetitus naturalis] darstellt. Doch bei den mit Erkenntnis begabten Wesen ist das eigene und natürliche Sein durch die Form derart bestimmt, daß es zugleich empfänglich ist für die Form anderer Wesen. (519; Fs)
1820 So bildet sich der Sinn durch das Sinnliche und der Geist durch das Geistige dergestalt, daß die mit Sinn und Geist begabte menschliche Seele in gewisser Weise alle Dinge ist: darin nähert sie sich dem Bilde Gottes, in dem - wie Dionysius sagt - alles vorausbesteht. (519; Fs)
1821 Da also die Formen in den mit Erkenntnis begabten Wesen in einer Weise bestehn, die höher ist als die der Naturformen, so muß die daraus hervorgehende Neigung in ihnen ebenfalls von einer Art sein, die höher ist als die rein natürliche Neigung. Diese höhere Neigung ist jenes Vermögen der Seele, das wir Begehrungsvermögen nennen, ein Vermögen, durch welches das Lebewesen nicht allein das begehrt, auf das es durch seine Naturform hingerichtet ist, sondern auch das, was es wahrnimmt1.' (519; Fs)
1822 Die Stärke dieser Auffassung liegt in der In-Beziehung-Setzung von Erkenntnis und Sein. Erkennen heißt sein. Erkennen heißt für ein Wesen, zu gleicher Zeit es selbst und ein Anderes sein. Es selbst ist ein Wesen von Natur; ein Anderes wird es dadurch, daß seine Lebenstätigkeit auf etwas Anderes reagiert. Wenn nun etwas nach dem Maße seines Seins strebt, wenn das Sein in sich strebend ist, so müssen wir zu den natürlichen Strebungen, die dem entsprechen, was wir von Natur sind, noch erworbene Strebungen hinzufügen, die auf das bezogen sind, was wir durch ein Anderes werden; (519f; Fs)
1823 unsere Naturform ist der uns einwohnende Beweger unserer unbewußten Entwicklung - in welcher Richtung, ist bereits gesagt; die durch die Erkenntnis in uns eingeführten Formen zweiten Grades aber werden in uns in gleicher Weise zu bewegenden Kräften. Wie die Tatsache, daß wir ein Anderes werden, in uns ein allgemeines Vermögen einer Formenempfänglichkeit voraussetzt, so setzt die Tatsache, daß wir infolge eines Andern streben, in uns eine entsprechende Strebefähigkeit voraus. Wir nennen sie im allgemeinen Begehrungsvermögen und in dem besondern Fall, in dem es sich um ein geistiges Streben handelt, Willen2. (520; Fs; tblStw: Wille) (notabene)
1824 So enthüllt sich in seiner Fülle das metaphysische Wesen des Verlangens, wie es die thomistische Philosophie sieht. In der Erkenntnis werde ich ein Anderes, und dieses Andere in mir strebt nach seinem Sein, seiner Vollendung, seinem Gut; denn 'jedes Sein ist in Hinsicht auf seine natürliche Form so angelegt, daß es nach ihr strebt, wenn es sie nicht hat, und daß es in ihr ruht, wenn es sie besitzt. Es verhält sich damit genau so, wie mit jeder Vollkommenheit, die ein Naturgut ist'. (520; Fs) (notabene)
1825 Wenn also in der Erkenntnis die Form eines Andern meine Naturform wird, so muß diese Form in mir nach ihrer Vollendung, ihrem natürlichen Gut, ihrem Sein streben. Sie wird es finden in jener Entwicklung des Lebens, die durch das Verlangen geweckt wird, und die daran arbeitet, die durch die Erkenntnis nur eben angedeutete Synthese ständig zu bereichern und aufzufüllen. Es versteht sich von selbst, daß dieses Streben nach Vollendung, das für den Gegenstand natürlich und selbsttätig ist, in mir von einer besondern Art wird; es ist nicht so, als ob ich gewissermaßen 'abdankte', um statt meiner in mir die Welt der Dinge handeln zu lassen. (520f; Fs)
1826 Die Subjekt-Objekt-Synthese unterdrückt keines ihrer Glieder, und das Geheimnis der Erkenntnis muß also in dem Geheimnis des Wollens wiederkehren. Doch das bleibt bestehen, daß sich in der Analyse das geistige oder sinnliche Streben immer zurück führen läßt auf das natürliche Streben, das heißt auf die 'Schwerkraft' des nach der Fülle seiner Form strebenden Seins. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt macht den Fall etwas verwickelter; sie ändert jedoch seine ersten Gegebenheiten nicht. (521; Fs)
1827 Wie dieser Fall sich verwickelt, müssen wir durch eine ein gehende Untersuchung des Begehrungsvermögens in seinen verschiedenen Stadien darlegen. (521; Fs)
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