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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Apostasie

Titel: Apostasie

Stichwort: Inkubationszeit (zw. Joachim von Fiora / Flora - Luther)

Kurzinhalt: ... die Suche nach einer Natur des Menschen jenseits des Streits der Konfessionen, die sich in dem Versuch ausdrückte, die stoische Idee der Natur als Grundlage für Spekulationen über das Naturgesetz zu verwenden

Textausschnitt: 7b Die Zeit zwischen Joachim von Flora und Luther, das heißt die Zeit von den ersten Regungen des Epochenbewusstseins bis zum Ausbruch der Massenbewegungen auf europäischer Ebene könnte man als eine Periode der gesellschaftlichen Inkubation charakterisieren. Die tatsächliche, mit der Reformation einsetzende Auflösung der mittelalterlichen Institutionen schuf die neuen gesellschaftlichen Fakten einer Pluralität sowohl von Kirchen wie auch von souveränen Staaten. Dieses neue Feld von gesellschaftlichen Fakten wurde nun zu dem Material, mit dem sich die Bewegung der Ideen auseinander zusetzen hatte. In den beiden vorhergehenden Teilen dieser Studie über Unordnung und Stabilisierung* befassten wir uns mit der Periode der Verwirrung und der Festigung, die dem großen Ausbruch folgte. Beginnend mit der Formierung der Kampffronten in der Reformation und Gegenreformation, über die Interventionskriege bis zur Stabilisierung der religiösen Streitfrage durch die Toleranzidee und der weltlichen Streitfrage durch die Idee des geschlossenen souveränen Staates analysierten wir den Rhythmus dieser Periode. Das Nettoergebnis war die wachsende Einsicht, dass die institutionelle Einheit der Christenheit unwiederbringlich zerbrochen war und dass die Pluralität der parochialen Institutionen, die das vielfältige Feld der innerweltlichen gesellschaftlichen Kräfte zum Ausdruck brachte, zur feststehenden Tatsache geworden war. Mit dem Frieden von Utrecht im Jahre 1713 war das Gleichgewicht der Mächte als die politische Verfassung der westlichen Welt akzeptiert worden; das Nachglühen der mittelalterlichen Spannung zwischen dem Reich und den von ihm sich trennenden Staaten erlosch mit dem großen Verzicht Habsburgs und Frankreichs, Europa durch die Kontrolle Spaniens beherrschen zu wollen. (Fs)

8a Die Ausschaltung von Kirche und Reich als öffentliche Mächte wurde durch das Wachstum neuer Gemeinschaftssubstanzen** begleitet, die in ihrer Funktion dahin tendierten, die sich auflösende Substanz der christlichen Menschheit zu ersetzen. Innerhalb der souveränen Nationalstaaten wuchs die Intensität des Nationalbewusstseins merklich an. Die englische Revolution des siebzehnten Jahrhunderts enthüllte erstmals die Stärke des neuen dämonischen Parochialismus. Sie enthüllte beides - sowohl den Glauben an die Nation als das Auserwählte Volk als auch den universalistischen Anspruch, dass die parochiale nationale Zivilisation die Zivilisation schlechthin darstelle. Auf internationaler Ebene konnten wir eine Mannigfaltigkeit von Ideen beobachten, die mit der neuen Situation klarzukommen suchten: eine Idee der Menschheit auf der Grundlage der Annahme einer für alle gleichen menschlichen Natur; eine Idee der Christianitas als die zivilisatorische Einheit des Westens in Opposition zu nichtwestlichen Zivilisationen; Ideen hinsichtlich der Beziehungen zwischen den christlichen Republiken sowie Ideen, die interzivilisatorische Beziehungen betrafen. Und schließlich: die Suche nach einer Natur des Menschen jenseits des Streits der Konfessionen, die sich in dem Versuch ausdrückte, die stoische Idee der Natur als Grundlage für Spekulationen über das Naturgesetz zu verwenden. Die von den mathematisierten Wissenschaften der äußeren Welt entwickelte Idee der Natur beeinflusste die Interpretation des Menschen, und die neue Psychologie der Leidenschaften wurde herangezogen, die generische Natur des Menschen zu bestimmen (Fs)

9a Die Entwicklung zu einer neuen Ordnung der Substanzen hatte damit eine beträchtliche Spannbreite und Dynamik. Nichtsdestoweniger finden wir vor 1700 keine umfassende, die konstituierenden Faktoren der neuen Situation berücksichtigende Interpretation des Menschen in Gesellschaft und Geschichte. Bei diesen Faktoren handelt es sich um den Zusammenbruch der Kirche als der universalen Institution der christlichen Menschheit, die Pluralität der souveränen Staaten als oberste politische Einheiten, die Entdeckung der Neuen Welt und bessere Kenntnisse über die asiatischen Zivilisationen, die Idee einer nichtchristlichen Natur des Menschen als Grundlage für Spekulationen über Recht und Ethik, den Dämonismus der parochialen, nationalen Gemeinschaften sowie die Idee der Leidenschaften als motivierende Kräfte im Menschen. Erst nach 1700 machte sich die kumulative Wirkung dieser verschiedenen Faktoren in dem akuten Bewusstsein bemerkbar, dass insgesamt eine Epoche zu ihrem Ende gekommen war und die neue Situation eine ungeheure Anstrengung der Interpretation erforderte, um für die Existenz des Menschen in Gesellschaft und Geschichte einen Sinn wiederzuerlangen, der den verlorenen Sinn der christlichen Existenz ersetzen konnte. (Fs)

10a Dieses Problem ist in der Tat von einer solchen Größe, dass es auch heute noch nicht in seinem ganzen Ausmaß erkennbar ist. Im achtzehnten Jahrhundert stoßen wir jedoch zumindest auf ein erstes klares Bewusstsein seiner Konturen und auf erste Anstrengungen nach der Formulierung eines neuen Verständnisses. Vielleicht können wir uns ihm am besten nähern, wenn wir die Gründe prüfen, die Voltaire dazu bewegten, für seine Gastgeberin und Freundin, die Marquise du Châtelet-Lorraine, seinen Essai sur les moeurs zu schreiben. (Fs)

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