Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Natur als Grundlage der Moral Titel: Natur als Grundlage der Moral Stichwort: "peccatum contra naturam"; "agere contra naturam"; praesuppositum, praesuppositio (eg: phantasma für praktische Vernunft); luxuria; maximum peccatum inter species luxuriae Kurzinhalt: Was Prinzip, Fundament des "ordo rationis" oder "ordo virtutis" ist, besitzt deshalb selbst eine moralische Qualifizierbarkeit ...kraft seines Charakters als eines "praesuppositum" für den "ordo virtutis", Textausschnitt: 111a Thomas behandelt das "peccatum contra naturam" bekanntlich eingehend im Zusammenhang mit dem Laster der "luxuria", der Unzucht. Es lohnt sich, seine Begründung dafür zu lesen, weshalb das "vitium contra naturam" auch ein "maximum peccatum inter species luxuriae" sei:
"In quolibet genere pessima est principii corruptio, ex quo alia dependent. Principia autem rationis sunt ea quae sunt secundum naturam: nam ratio, praesuppositis his quae sunt a natum determinata, disponit alia secundum quod convenit. Et hoc apparet tam in speculativis quam in operativis. Et ideo, sicut in speculativis error circa ea quorum cognitio homini est naturaliter indita, est gravissimus et turpissimus; ita in agendis agere contra ea quae sunt secundum naturam determinata, est gravissimum et turpissimum. Quia ergo in vitiis quae sunt contra naturam transgreditur homo id quod est secundum naturam determinatum circa usum venereum, inde est quod in hac materia hoc peccatum est gravissimum. (...) Per aliae autem luxuriae species praeteritur solum id quod est secundum rationem rectam determinatum; ex praexuppositione tamen naturalium principiorum."1
Q[154] A[12] Body
I answer that, In every genus, worst of all is the corruption of the principle on which the rest depend. Now the principles of reason are those things that are according to nature, because reason presupposes things as determined by nature, before disposing of other things according as it is fitting. This may be observed both in speculative and in practical matters. Wherefore just as in speculative matters the most grievous and shameful error is that which is about things the knowledge of which is naturally bestowed on man, so in matters of action it is most grave and shameful to act against things as determined by nature. Therefore, since by the unnatural vices man transgresses that which has been determined by nature with regard to the use of venereal actions, it follows that in this matter this sin is gravest of all. After it comes incest, which, as stated above (A[9]), is contrary to the natural respect which we owe persons related to us.
111c Im Rahmen einer ganzheitlichen Sicht der menschlichen Person und ihrer natürlichen Strebungen wird der zitierte Gedankengang unmittelbar plausibel; es besteht nicht die geringste Gefahr einer naturalistischen Fehldeutung: Denn der "ordo naturalis" einer jeden natürlichen Neigung hinsichtlich seines "actus et finis proprius" ist Fundament und Prinzip, praesuppositum des "ordo rationis" und damit auch der "lex naturalis", ja des sittlichen Handelns überhaupt als menschliches Handeln, und im Speziellen: jeder Form von menschlicher Liebe. Was Prinzip, Fundament des "ordo rationis" oder "ordo virtutis" ist, besitzt deshalb selbst eine moralische Qualifizierbarkeit, und zwar nicht aufgrund seiner bloßen "Natürlichkeit", sondern kraft seines Charakters als eines "praesuppositum" für den "ordo virtutis", und damit für das menschliche Handeln als menschliches überhaupt. (Fs) (notabene)
112a Ist ein willentliches Handeln in diesem Sinne "contra naturam", so ist es zwar nicht unmittelbar "contra rationem", jedoch "contra naturam quam ratio praesupponit". Der Akt der "ratio naturalis" und damit die gesamte Ordnung des sittlichen Handelns wird durch ein solches "contra naturam agere" in seinem natürlichen Fundament verletzt und deshalb ist ein solches "contra naturam" ein fundamentaler Verstoß gegen die Ordnung der Vernunft in ihren Grundlagen. Das Verhältnis der "praesuppositio" zwischen Natur und Vernunft ist das entscheidende und einzige Kriterium dafür, daß ein Wollen eines solchermaßen ausgezeichneten "ontischen Übels" unmittelbar auch ein moralisches Übel zu sein vermag, bzw. dafür, daß es niemals nur ein "ontisches Übel" sein kann. (Fs) (notabene)
112b Nur in einer dualistischen, bzw. spiritualistischen Anthropologie kann eine solche "praesuppositio" übersehen werden, und zwar, weil dann sämtliche von der geistigen Sphäre des Menschen selbst unterscheidbaren Schichten der menschlichen Natur als sittlich indifferent und deshalb bezüglich der praktischen Vernunft und dem Willen nicht als Prinzipien, sondern instrumental aufgefaßt werden. Als eine Art "Rohmaterial" also, in welchem eine Ordnung, die mit dem "ordo moralis" einen inneren Bezug hätte, überhaupt noch nicht vorhanden wäre, sondern erst geschaffen werden müßte. Der Aufruf vieler Moraltheologen, jede moralische Verpflichtung bestünde einfach darin, "soviel ontisches Übel wie möglich zu verhindern", wobei kein "ontisches Übel" jedoch schon in sich auch ein moralisches Übel sein könne, mag zwar als Beleg für ihre edlen Absichten gelten, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie dabei die Grundstruktur praktischer Werterkenntnis und sittlichen Handelns verkennen, sowie auch, nebenbei bemerkt, die Wirklichkeit der "lex aeterna" und ihre Partizipation im Menschen. Damit werden wir uns noch eingehend beschäftigen. (Fs)
112c Mit dem hl. Thomas ist zu betonen, daß sowohl die spezifisch menschlichen Akte der Erkenntnis wie auch die der Liebe immer auf einem "ordo a natura determinata", und d. h. einer bestimmten natürlichen Neigung mit ihrem "finis et actus proprius" aufruhen und sich allein in ihrem Kontext überhaupt definieren und vollziehen lassen, - zumindest, soweit es vom Willen des Menschen abhängt. Das gilt selbstverständlich auch für die der geistigen Ebene zugehörige Ausrichtung des Intellektes auf die Wahrheit, die Erkenntnis Gottes ("desiderium naturale") und des Willens auf das Gute und auf das Du, die natürlicherweise einen "ordo iustitiae" begründen, der wiederum Grundlage aller menschlichen Liebe darstellt und auch im Kontext ehelicher Liebe konstitutive Bedeutung besitzt; denn eheliche Liebe vollzieht sich in der Einheit der Person auch immer in der Ordnung der Tugend der Gerechtigkeit. (Fs) (notabene)
112d Es soll damit unterstrichen werden, daß die moralische Qualifizierung eines "contra naturam agere" nicht einer Ableitung des "ordo moralis" aus dem "ordo naturae" entspricht. Sie entspringt vielmehr gerade umgekehrt, einer Interpretation des natürlichen "ordo" der natürlichen Neigungen im Lichte des "ordo rationis", bzw. der Tugend; sie beruht also auf der Erfassung der Beziehung einer "praesuppositio". Deshalb erweist sich die moralische Qualifizierung des "contra naturam agere" selbst als eine Leistung der praktischen Vernunft. (Fs) (notabene)
112e Ebenfalls wird nicht behauptet, der "ordo naturalis", den die Vernunft voraussetzt, sei "lex naturalis". Mit Thomas würden wir sagen: "pertinet ad legem naturalem", aber selbst ist er noch nicht "lex", denn diese besteht in der "ordinatio rationis" bezüglich dem "proprium" der natürlichen Neigungen, eine "ordinatio", die allerdings ohne dieses "praesuppositum" gar nicht zustande kommen könnte; d. h. sie könnte, wegen der Mißachtung der passiven Partizipation am Ewigen Gesetz (des "mensuratum esse" des Menschen) keine dem Ewigen Gesetz entsprechende "ordinatio" sein und würde deshalb ihren Charakter als "lex naturalis, quae est participatio legis aeternae in rationali creatura" grundlegend verfehlen. Deshalb kann man sagen: eine solche "ordinatio" entspräche auch nicht dem Willen Gottes. (Fs)
113a Wenn verstanden wird, daß es einen "ordo naturalis" gibt, "quem lex naturalis praesupponit", daß ohne ihn auch die "lex naturalis", der "ordo rationis" und der "ordo virtutis" ihr Fundament verlieren, so versteht man auch, weshalb durch ein solchermaßen qualifiziertes "contra naturam agere" überhaupt ein echtes, im Vollsinne menschliches Handeln, Erkennen und Lieben verunmöglicht wird. (Fs)
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