Autor: Voegelin, Eric Buch: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte Titel: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte Stichwort: Max Weber, Epigonentum, Historismus, Klassenkampf, Wille zur Macht, Libido, Zweckrationalität Kurzinhalt: Stilbruch 1830er, 4 Figuren von Weltrang: Marx, Nietzsche, Freud, Weber; gemeinsame Züge dieser Denker: Perspektive reduzierter Menschlichkeit, Maske, Abneigung gegen den Bürger Textausschnitt: Die Größe Max Webers
I.
1/4 In der deutschen Geschichte des Geistes ereignet sich, in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, ein Stilbruch. Vor ihm liegt die Zeit des Idealismus in der Philosophie, der Klassik und Romantik in der Literatur, die mit dem Tod Hegels (1831) und Goethes (1832) endet. Sie kann von ihren geistigen Leistungen her als sinnhafte Periode verstanden und chronologisch umgrenzt werden. Nach ihm beginnt eine Zeit, die so wenig sinnhafte Kontur hat, daß sie kaum als verstehbare Periode des Geistes deutlich wird. Zwar gibt es auch für diese Zeit Kategorien - wir sprechen von der 48er Zeit, von der Zeit der Reichsgründung, von der Wilhelminischen Zeit -, aber sie orientieren sich an den politischen Ereignissen, an dem sinnhaft Äußeren des Machthandelns. Es fehlt an geistiger Erhellung von innen und an Selbstverständnis. Nicht daß die Zeit arm wäre an bedeutenden Leistungen in den Naturwissenschaften, den positiven Geschichtswissenschaften oder in der Erkenntnistheorie - aber im ganzen ist sie negativ gezeichnet als eine des Epigonentums, des Historismus und Relativismus. Und politisch mündet die ominöse Negativität in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, die wieder gefolgt ist von den noch größeren Katastrophen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Die Zeit, so will es scheinen, hat kein Antlitz, das vom Geist geprägt wäre. (78; Fs)
2/4 Oder will es nur so scheinen?
Denn gerade in dieser Zeit ohne greifbaren Charakter hat Deutschland vier Figuren von Weltrang hervorgebracht: Karl Marx (1818-1883), Friedrich Nietzsche (1844-1900), Sigmund Freud (1856-1939) und Max Weber (1864-1920). (78; Fs)
3/4 Vier Figuren von Weltrang - das ist nicht gerade wenig. Und es wäre seltsam, wenn aus einer Gesellschaft innerhalb von fünfzig Jahren vier Männer von überragender Statur hervorgingen, ohne daß ihr Auftreten der Ausdruck einer sinnhaft charakterisierbaren Situation wäre. Fragen wir darum: Sind an der denkerischen Haltung dieser Männer nicht Züge zu erkennen, die allen wesenhaft gemeinsam wären? Geben die vier Großen der undurchsichtigen verschwommenen, epigonischen Zeit nicht eine Signatur, durch die sie zu einer verstehbaren Periode des Geistes würde?
Die Frage ist zu bejahen, denn ihr Denken läßt in der Tat gemeinsame Züge erkennen. (79; Fs)
4/4 Vor allem sind sie einig darüber, daß der Mensch und sein Handeln aus der Perspektive der Macht, des Kampfes und des Trieblebens zu verstehen sind. Ihr Interesse konzentriert sich auf die Schicht der Existenz, die in der klassischen und christlichen Ethik unter den Titel der passiones, der concupiscentiae, der libidines fiel; die von Hobbes zur Natur des Menschen erklärt worden war; und die jetzt, nach der Zerstörung der klassischen Ethik durch den deutschen Idealismus, im Klima der Verlassenheit von Vernunft und Geist sozial dominant wird. Ein solcher Versuch, den Menschen aus der Perspektive reduzierter Menschlichkeit zu deuten, erfordert neue Symbole. Die vier Denker werden darum zu Sprachschöpfern und propagieren ein neues Reich der Ausdrücke, das mit ökumenischem Erfolg die Sprache der Philosophie verdrängt: Marx den Klassenkampf, Nietzsche den Willen zur Macht, Freud die Libido, Max Weber die Zweckrationalität des Handelns als die Ananke der Politik und Geschichte. - (79; Fs)
5/4 Zum zweiten: Ihnen allen ist das Bemühen gemeinsam, die Werte als Masken für Interessen, Kampf und Triebleben zu enthüllen. Das Unternehmen der Demaskierung wieder erfordert zwei Serien von Ausdrücken, deren Korrelation bis heute wenig beachtet wird. Erstens bedarf es der Symbole, durch die Vernunft und Geist zu Masken der Triebsphäre werden. Wir hören darum von der Ideologie, die klassen- und situationsbedingt sei; von der Kultur als dem Überbau über den Produktionsverhältnissen; von der ethischen Begründung des Handelns als einer Rationalisierung von Wünschen und Interessen; und vom Geist als der Sublimierung der Triebe. Korrelativ zu der ersten muß jedoch die zweite Serie entwickelt werden, die bestimmt ist, die rationale Sprache der Güter- und Tugendlehre in Ethik und Politik zu verdrängen. Ich spreche von der Praseologie [sic] der Werte, der Werturteile jenseits rationaler Prüfung, der wertbeziehenden Methode und der wertfreien Wissenschaft. Ohne die gewollte Undurchsichtigkeit dieser zweiten Serie von Symbolen gäbe es nichts zu enthüllen. Denn in der Sprache der Philosophie sind die Motivationen des Handelns durch die Leidenschaften ebenso durchsichtig wie die Orientierung des Handelns durch Liebe zum göttlichen Sein.- (79f; Fs)
6/4 Zum dritten: Ihnen allen ist gemeinsam die Abneigung - man darf sagen: der Haß - gegen den Bürger in seinen Spielarten vom Finanz- und Industriebürger bis zum kleinen Spießbürger, sowie gegen die bürgerlich-verklemmte Eigentums- und Sexualmoral. Und diesem Haß wieder korrespondiert ein Aristokratismus der Haltung, der sich gegen die geistige und intellektuelle, und damit sittliche Verrottung der Zeit auflehnt. (80; Fs)
7/4 Wenn aber die angedeuteten Züge als gemeinsame zu erkennen sind, warum werden die vier Männer nicht als die Figuren erkannt und anerkannt, die der Zeit ihre Signatur geben? Warum sprechen wir nicht von einer Periode, die, durch sie charakterisiert, der Periode des deutschen Idealismus, der Klassik und Romantik folgt? Oder genauer: Warum fehlt uns der sprachliche Ausdruck zur Bezeichnung einer Periode, die zweifellos erkennbare Charakteristika hat? (80; Fs)
8/4 Die Antwort ist im Anti-Rationalismus der sprachlichen Neuschöpfungen zu suchen. Zwar sind die gemeinsamen Züge - die Konzentration auf die sozial dominant gewordene Sphäre der concupiscentiae, die Abneigung gegen die verhüllend-undurchsichtigen Werte, und der Aristokratismus der Haltung - als Reaktion auf den Verfall der Zeit zu erkennen, aber das reaktive Verhalten aus dem Geist der Platonischen andreia findet nicht die ihm angemessene Sprache - die Zeit ist so tief verrottet, daß sie auch die Erfahrung der Vernunft und des Geistes und deren Symbolik diskreditiert hat. (80f; Fs)
9/4 Der geistig-reaktiven Haltung, die wir in jedem der vier Fälle finden, korrespondiert darum keine gemeinsame Sprache, in der die Gemeinschaft der Haltung artikuliert und mitgeteilt werden könnte. Jeder entwickelt eine Sondersprache als Ausdruck seiner spezifischen Reaktion und vergrößert dadurch die Sprachverwirrung, die durch den Verlust der philosophischen Sprache entstanden war und nur durch ihre Wiederherstellung behoben werden konnte. Da der Sumpf der Zeit auch die sprachlichen Mittel der Kritik in sich hinabgesogen hatte, war die Zeit stärker als die Stärksten, die versuchten ihr Widerstand zu leisten. Das reaktive Verhalten wird infolgedessen eigentlich zwittrig: Es will die philosophisch-kritische Distanz zur Zeit herstellen, aber zur Durchführung der Intention fehlt es an der philosophischen Distanz; es will den Kampf gegen den Verfall der Zeit führen, aber es muß ihn in der Sprache des Verfalls führen. Der Zwittrigkeit dieser distanzlosen Distanz dürfte der Zug von aggressiver Selbstgewißheit und Selbst-Darstellung entspringen, der uns bei den vier kämpferischen Denkern gegen die Zeit heute als merkwürdig berührt. Keiner von ihnen scheint von Mißtrauen gegen sich selbst und sein Werk geplagt gewesen zu sein - von jener Malaise des Mißtrauens, die den souveränen Denker auszeichnet. (81; Fs)
10/4 Die reaktive Haltung ohne geistige Artikulation bedingt die Sondersprachen und diese wieder machen die Leistung der vier Denker gedanklich undurchsichtig. Weder können die gemeinsamen Züge in der Sprache eines von ihnen dargestellt werden - wir können nicht das Werk der jeweils anderen in der Sprache von Marx, Nietzsche, Freud oder Max Weber verständlich machen -, noch wird das Werk jedes einzelnen von ihnen transparent, wenn wir uns zur Deutung seiner eigenen Sprache bedienen. Die Pluralität der privaten Sprachen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts mußte erst durch die Wiederherstellung der öffentlichen Sprache des Philosophierens überwunden werden, um die gemeinsamen Züge der Verfallszeit und der Auflehnung gegen sie für die Vernunft verständlich zu machen. Mit der Wiederherstellung der Gemeinsprache aber klärt sich das Periodenproblem der Zeit, die keine besaß, insoferne als es wieder möglich wird, den Verfall der Zeit aus der Distanz der Vernunft und des Geistes kritisch zu bewältigen. Durch die neue Situation, in der wir die Dominanz der Macht, des Kampfes und des Trieblebens nicht mehr in ihrem eigenen Vokabular hinnehmen müssen, konstituiert sich eine neue Periode. Von ihr rückblickend wird die Zeit des Verfalls und der reaktiven Haltungen ihrerseits zu einer verstehbaren Periode des Geistes. (81f; Fs)
11/4 Eingangs wurde von dem Stilbruch in der deutschen Geschichte des Geistes gesprochen. Abschließend sei dieser Punkt noch einmal berührt, um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen. Denn der Stilbruch darf nicht als ein Bruch in der Kontinuität des Geistes und seiner Geschichte verstanden werden. In der sinnhaft verständlichen, glanzvollen Periode des deutschen Idealismus, der Klassik und Romantik wird die undurchsichtige, nur schwer charakterisierbare Zeit, die nachfolgt, vorbereitet. Auch die Zeit des Glanzes war daher vielleicht nicht ganz so glanzvoll, wie sie dem Bürgertum der Nachzeit auch heute noch erscheint. Aber diese Frage können wir hier nicht mehr als andeuten. Wir haben uns mit der Periode der vier Großen zu befassen, und mit der Stellung Max Webers in ihr. (82; Fs)
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