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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Stichwort: Vernunft, Tod, metaxy, daimonion, Leidenschaft, Existenzgier,

Kurzinhalt: athanatizein, Vernunft - Leidenschaft, Puppenspieler (helkein - anthelkein), Prozeß des Unsterblich-Werdens, hen, nous - apeiron, superbia vitae, libido dominandi

Textausschnitt: III. Leben und Tod
45/6 Das Leben der Vernunft im klassischen Sinn ist Existenz in der Spannung zwischen Leben und Tod. Der Begriff Spannung soll das Bewußtsein für dieses eigentümliche 'Zwischen' der Existenz schärfen. Mit 'Zwischen'1 übersetze ich den Begriff des metaxy, den Platon im Symposion und im Philebos entwickelt hat. (147; Fs)
46/6 Der Mensch erfährt sich als ein Wesen, das über seine menschliche Unvollkommenheit hinaus nach der Vollkommenheit des göttlichen Grundes strebt, der ihn anziehend bewegt. Indem der geistige Mensch, der daimonios aner, auf der Suche nach dem Grund in Bewegung ist, bewegt er sich irgendwo zwischen Wissen und Nichtwissen (metaxy sophias kai amathias). 'Das ganze Reich des Geistigen (daimonion) ist in der Tat in der Mitte zwischen (metaxy) Gott und Mensch' (Symp. 202a). Das Zwischen (metaxy) ist also nicht ein leerer Raum zwischen den Polen der Spannung, sondern das 'Reich des Geistigen'. Es ist die Realität, in der 'Götter und Menschen miteinander verkehren' (202-203), das wechselseitige Partizipieren (methexis, metalepsis) von menschlicher in göttlicher und von göttlicher in menschlicher Realität. (147; Fs)
47/6 Das metaxy symbolisiert die Erfahrung der noetischen Suche als einen Übergang der Seele von Sterblichkeit zu Unsterblichkeit. In der Sprache des Sokrates im Phaidon ist richtiges Philosophieren die Einübung in den Tod (melete thanatou), die der psyche die Fähigkeit verleiht, im Tod ihren göttlichen, unsterblichen und weisen Zustand in Wahrheit (alethos, 81 a) zu erreichen. In der Sprache des Aristoteles ist noetisches Philosophieren die Übung, unsterblich zu werden (athanatizein, NE 1177b 33). 'So ein Leben jedoch ist mehr als nur menschlich; es kann vom Menschen nicht gelebt werden, insofern er Mensch ist, sondern nur kraft des Göttlichen (theion), das in ihm ist[...] Wenn also der nous im Vergleich zum Menschen göttlich ist, dann ist das noetische Leben gottlich im Vergleich zu menschlichem Leben' (NE 1177b 27 ff.). Auf Grund der gottlichen Präsenz, die der Unruhe ihre Richtung gibt, wird die Entfaltung des noetischen Bewußtseins als ein Prozeß des Unsterblich-Werdens erfahren. Mit ihrer Entdeckung des Menschen als eines zoon noun echon haben die klassischen Philosophen entdeckt, daß der Mensch mehr ist als ein thnetos, ein Sterblicher: Er ist das unvollendete Wesen, das sich von der Unvollkommenheit des Todes in diesem Leben zu der Vollkommenheit des Lebens im Tode bewegt. (147f; Fs)
48/6 Historisch ist die Erfahrung, in der Entfaltung des rationalen Bewußtseins unsterblich zu werden, das Sturmzentrum gewesen - und sie ist es noch -, von dem Mißverständnisse, irrefuhrende Fehldeutungen und wütende Angriffe ausgegangen sind. (148; Fs)
49/6 Wenn der Mensch im metaxy existiert, in der Spannung 'zwischen Mensch und Gott', dann zerstört jede Auffassung des Menschen als eines weltimmanenten Wesens den Sinn von Existenz, weil sie den Menschen seines spezifischen Wesens beraubt. Andrerseits dürfen die Pole der Spannung nicht zu Objekten vergegenständlicht werden, die unabhangig sind von der Spannung, in der sie als ihre Pole erfahren werden. Diese Mißdeutungen konnen die Form elementarer logischer Fehler annehmen, wie die oben zurückgewiesene Umformung des zusammenfassenden Symbols zoon noun echon in eine Nominaldefinition. Oder sie können, detaillierter ausgeführt, die körperliche Existenz des Menschen fur den Zweck mißbrauchen, die metaleptische Spannung durch Kausalerklärung auf die organischen und anorganischen Seinsschichten zu reduzieren, in denen die Spannung fundiert ist. (148; Fs)
50/6 Oder man kann, da die Entdeckung des nous und die Symbolisierung des metaxy Tatsachen in der Geschichte der Menschheit sind, versuchen, die Symbole, die durch die Spannung hervorgebracht worden sind, psychologisch als Projektionen einer immanenten Seele zu erklären. Die Urheber dieser Mißdeutungen können ferner ihre Absicht offen erklären durch eine derjenigen direkten Attacken auf die noetische Struktur der Existenz, von denen ich representative Beispiele angeführt habe. Welchen Grad an Ausführlichkeit und bewußter Absicht auch immer sie haben mogen: die Deformationen des menschlichen Pols der Spannung zu einem weltimmanenten Gegenstand sind Attacken auf das Leben der Vernunft, eine aspernatio rationis im stoischen Sinn. Sie sind psychopathologische Phanomene. Da die gröbste Sorte von Fehldeutungen, durch welche die neuzeitliche Periode ideologischen Denkens beherrscht wird, mittlerweile notorisch geworden ist, erübrigt es sich, mehr darüber zu sagen. (148f; Fs)
51/6 Viel subtiler ist die Entstellung, die die klassische Analyse noetischer Existenzordnung durch eine restriktive Konzentration auf den Konflikt zwischen der Vernunft und den Leidenschaften erfahren hat. Diese Entstellung hat nun schon eine mehr als tausendjahrige Geschichte. Sogar die Stoiker waren bestürzt, als sich bei ihrem Versuch einer Psychopathologie herausstellte, daß auch ein Ubermaß an Leidenschaft das Syndrom geistiger Krankheit nicht in befriedigender Weise erklären konnte. Auf den Leidenschaften als der einzigen Quelle der Unordnung herumzureiten, führte zu der albernen Sackgasse, die Horaz satirisch dargestellt hatte. Und überdies konnte keine Art der Nachgiebigkeit gegenüber den Leidenschaften die Ablehnung der Vernunft im Namen der Vernunft erklären, die Chrysipp beunruhigt hatte. Da war hinter den Leidenschaften eine ratselhafte Kraft am Werk, die die noetische Ordnung der Existenz störte und sich in der agnoia ptoiodes manifestierte. Die Ursache dieses Rätsels war und ist die Isolierung sowohl der Vernunft wie der Leidenschaften aus ihrem Kontext in der Spannung zwischen Leben und Tod. (149; Fs)
52/6 In den Nomoi hat Platon den Mythos vom Puppenspieler entwickelt, der die menschlichen Puppen an verschiedenen Metallschnüren zieht, an der goldenen Schnur der Vernunft und an den weniger edlen Schnüren der Leidenschaften. Man konnte und kann auf diesen Mythos verweisen, um das Wechselspiel der Anziehungskräfte in der menschlichen Existenz zu verstehen, aber man darf das kosmische Drama nicht vergessen, in dem dieses Wechselspiel stattfindet. Die Zugkraft (helkein) der Vernunft und die ihr entgegenwirkenden Zugkräfte (anthelkein) der Leidenschaften sind nur zu wirklich, aber es sind Bewegungen, die die psyche erfährt in ihrem Zustand der Eingeschlossenheit in einen sterblichen Körper. Der Grund, warum der Mensch mehr der einen als der anderen Kraft folgen sollte, kann nicht in der 'Psychodynamik' des Puppenspiels noch in irgendwelchen moralischen Normen gefunden werden, sondern in der potentiellen Unsterblichkeit, die durch die göttliche Präsenz im metaxy als Möglichkeit angeboten wird. (149f; Fs)
53/6 In der klassischen Erfahrung noetischer Existenz ist der Mensch frei, sich entweder auf den Prozeß des Unsterblich-Werdens einzulassen, indem er der Zugkraft des gottlichen nous folgt, oder den Tod zu wählen, indem er der entgegenwirkenden Zugkraft der Leidenschaften folgt. Die psyche des Menschen ist das Schlachtfeld der Entscheidung zwischen den Kräften von Leben und Tod. Das Leben ist nichts Gegebenes. Der Gott der Nomoi kann es nur anbieten durch die Offenbarung seiner Gegenwart. Das Leben zu gewinnen erfordert die Mitwirkung des Menschen. (150; Fs)
54/6 Wenn Leben und Tod als die bewegenden Kräfte hinter der Vernunft und den Leidenschaften sichtbar geworden sind, so wird eine weitergehende Analyse des metaxy erforderlich. Platon hat diese im Philebos gegeben, indem er das Mysterium des Seins als Existenz zwischen (metaxy) den Polen des 'Einen' (hen) und des 'Unbegrenzten' (apeiron) symbolisierte (16d-e). Das Eine ist der göttliche Grund (aitia), der als die gestaltende Kraft in allen Dingen präsent ist, gleichzusetzen mit Weisheit und Vernunft (sophia kai nous) (30 b-c). Das Unbegrenzte ist das apeiron Anaximanders, der kosmische Grund, aus dem die Dinge ins Sein (genesis) hervorgebracht werden und in das hinein sie auch wieder vergehen (phthora), 'denn sie zahlen einander Bußgeld für ihr Unrecht (adikia) nach der Anordnung der Zeit' (B 1). (150f; Fs)
55/6 Hinter den Leidenschaften ist die Existenzgier am Werk, die aus der Tiefe des kosmischen Grundes kommt (d. h. das Unrecht, auf das das Gesetz des Kosmos die Strafe des Todes in der Zeit gesetzt hat). In christlicher Psychologie ist aus dieser apeirontischen Existenzgier die superbia vitae geworden, oder die libido dominandi, die für die Theologen als Definition der Erbsünde gilt. Der Konflikt zwischen Vernunft und Leidenschaften erhält also seinen spezifischen Charakter durch das Partizipieren der psyche im metaxy, dessen Pole apeiron und nous sind. In der psyche des Menschen erreicht die Spannung in der Realität den Status des Bewußtseins. Die Folgen für den Sinn menschlicher Existenz hat Platon im Timaios dargelegt: (151; Fs)
'Wenn nun ein Mensch sich seinen Begierden (epithymia) und seinen ehrgeizigen Wunschen (philonikia) überläßt und ihnen zügellos frönt, dann werden notwendigerweise all seine Gedanken (dogmata) sterblich und folglich er selber, soweit dies überhaupt möglich ist, ganz und gar sterblich, weil er seinen sterblichen Teil genährt hat. Wenn er aber mit Eifer seine Liebe zur Erkenntnis und zur wahren Weisheit gepflegt hat und wenn er vor allem seine Fähigkeit geübt hat, unsterbliche und göttliche Dinge zu denken, dann wird er in dem Maße, in dem er die Wahrheit berührt, notwendigerweise unsterblich werden, soweit es für die menschliche Natur möglich ist, an der Unsterblichkeit teilzuhaben.' (90 a-b) (151; Fs)
56/6 Und doch: auch wenn ein Mensch 'sterblich wird', kann er seiner Existenz als eines zoon noun echon nicht entrinnen. Selbst wenn er die Vernunft zurückweist, muß diese Zurückweisung die Form der Vernunft annehmen, will er nicht Stimmungen wie Niedergeschlagenheit, taedium vitae, akedia und so weiter verfallen. Je stärker er seiner sterblichmachenden libido dominandi nachgibt, umsomehr muß der Tod, den er wirkt, in das Bild des Lebens gekleidet werden. Deshalb erfordert eine radikale, voll bewußte aspernatio rationis, wie sie in den Ideologien der Neuzeit zu finden ist, eine ebenso radikale Symbolisierung in Form eines rationalen Systems, wenn möglich eines Systems der 'Wissenschaft' im Hegelschen Sinn. (151f; Fs)
57/6 Tatsächlich haben die radikalen Systeme der Neuzeit, besonders die geschichts-philosophischen, beträchtlich zur Klärung des Problems beigetragen, weil ihr Zweck schon im 18. Jahrhundert festgestellt und kritisiert worden ist. In seiner Vorlesung uber Universalgeschichte (1789) erklärte Schiller, der Zweck einer progressivistischen Geschichtsphilosophie sei, eine imaginäre Unsterblichkeit zu erlangen durch Partizipation am imaginären Sinn der Geschichte. Der Sinn einer Universalgeschichte, die einem Reich der Vernunft entgegengeht, ersetze den Sinn der Existenz, der mit dem Verlust des Glaubens an die Unsterblichkeit der Person verlorengegangen war. Aber schon fünf Jahre vorher hatte Kant bemerkt, daß Partizipation am Sinn der Geschichte kein Ersatz für den Sinn der individuellen Existenz ist, weil sie auf das Problem des individuellen Todes eines Menschen in der Zeit keine Antwort gibt.2 Heute, fast zweihundert Jahre danach, ist die Bemerkung Kants eine erschütternde Neuigkeit für osteuropäische Marxisten geworden, die entdeckt haben, daß der Glaube an das kommunistische Dogma im Angesicht des Todes kein großer Trost ist. (152; Fs)

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