Autor: Voegelin, Eric Buch: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte Titel: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte Stichwort: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 8); Psychopathologie 3; Ursprung d. Entgleisung in d. fragenden Unruhe (agnoia - Angst); neuzeitliche Geschichte der Unruhe: Hobbes, Hegel, Heidegger, Freud; Apperzeptionsverweigerung (Doderer), Frankl Kurzinhalt: ... geht es dabei um mehr als um einen bloßen Unterschied in der Stimmung zwischen klassischer und moderner Unruhe. Denn die Vertreter der modernen agnoia ptoiodes beanspruchen in aggressiver Weise für ihre geistige Krankheit den Status geistiger ... Textausschnitt: 40/6 Die Stoiker diagnostizierten also geistige Krankheit als eine Störung noetisch geordneter Existenz. Diese Störung betrifft sowohl die Leidenschaften als auch die Vernunft, aber sie ist weder durch das eine noch durch das andere verursacht. Sie hat ihren Ursprung in der fragenden Unruhe, der agnoia, und in der Freiheit des Menschen, das Ziel der menschlichen Natur, das in der Unruhe potentiell enthalten ist, zu verwirklichen oder dieses Ziel zu verfehlen. (144; Fs)
41/6 Gesundheit oder Krankheit der Existenz wird schon aus der Stimmungslage dieser Unruhe spürbar. Die klassische, besonders die aristotelische Unruhe ist unverkennbar freudig, da das Suchen in sich eine Richtung hat. Die Unruhe wird als der Beginn eines theophanischen Ereignisses erfahren, in dem sich der nous als die göttlich ordnende Kraft in der psyche des Fragenden und im Kosmos in seiner Gesamtheit offenbart. Die Unruhe ist eine Einladung, dem Ziel, das sie anzeigt, bis zur Aktualisierung des noetischen Bewußtseins nachzuspüren. (144f; Fs)
42/6 Es gibt keinen Ausdruck für 'Angst'. Die Gefühlslage, in Panik oder Schrecken versetzt zu werden durch eine Frage, auf die keine Antwort gefunden werden kann, ist der klassischen Erfahrung in charakteristischer Weise fremd. Die 'Panik' wurde erst durch die Stoiker als ein pathologisches Phänomen durch das Adjektiv ptoiodes eingeführt. In der neuzeitlich-westlichen Geschichte der Unruhe dagegen, von Hobbes' 'Todesfurcht' bis zu Heideggers 'Angst' hat sich die Stimmung verschoben von freudiger Teilnahme an einer Theophanie zu der agnoia ptoiodes, zur feindseligen Entfremdung von einer Wirklichkeit, die sich mehr verbirgt, als daß sie sich offenbart. Hobbes ersetzt das summum bonum durch das summum malum als ordnende Kraft in der menschlichen Existenz; Hegel baut seinen eigenen Zustand der Entfremdung zu einem System aus und lädt alle Menschen ein, Hegelianer zu werden; Marx verwirft die aristotelische Suche nach dem Grund rundweg, und lädt uns ein, sich ihm als 'sozialistischer Mensch' in seinem Zustand der Entfremdung anzuschließen; Freud diagnostiziert die Offenheit zum Grund als eine 'Illusion', als 'neurotisches Relikt', als 'Infantilismus'; Heidegger wartet auf die 'Parusia des Seins', die nicht kommt, was die Erinnerung an Samuel Beckets 'Warten auf Godot' wachruft; Sartre fühlt sich 'zur Freiheit verdammt' und schlägt wild um sich bei dem Versuch, Ersatzziele zu entwerfen für das eine Ziel, das er verfehlt hat; Levy-Strauss versichert uns, daß man nicht Wissenschaft betreiben kann, wenn man nicht Atheist ist; das Symbol 'Strukturalismus' wird das Schlagwort einer modischen Bewegung der Flucht aus der noetischen Struktur der Realität. Und wo weiter.' (145; Fs)
43/6 Aber wie diese Fallsammlung zeigt, geht es dabei um mehr als um einen bloßen Unterschied in der Stimmung zwischen klassischer und moderner Unruhe. Denn die Vertreter der modernen agnoia ptoiodes beanspruchen in aggressiver Weise für ihre geistige Krankheit den Status geistiger Gesundheit. Im Meinungsklima der Neuzeit hat das zoon agnoian echon das zoon noun echon ersetzt. Die Pervertierung der Vernunft infolge ihrer Aneignung durch geistig Kranke, die schon Chrysipp beunruhigt hatte, hat sich in der neuzeitlichen Periode des Kulturverfalls zu der mörderischen Groteske unserer Zeit ausgewachsen. (145f; Fs)
44/6 Von Pervertierung allein kann jedoch der Mensch nicht leben. Parallel zu der Kulmination der Groteske in Hitler, Stalin und der Orgie des 'Befreiungspöbels' nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs auch das Bewußtsein ihres pathologischen Charakters. Zwar hatte schon im 19. Jahrhundert Schelling, als er sich mit dem Progressivismus seiner Zeit befaßte, den Ausdruck 'Pneumopathologie' geprägt. Aber bis in die jüngste Zeit wäre es sinnlos gewesen, die 'Meinungen', die die öffentliche Szene beherrschen, als psychopathologische Phänomene zu behandeln. Mittlerweile aber sind der 'Trugschluß des Reduktionismus', die Hervorbringung imaginärer 'Zweiter Wirklichkeiten' und die Rolle von Geschichtsphilosophien bei der Erzeugung einer Illusion von 'Unsterblichkeit' weithin als pathologische Symptome bekannt geworden. Ein Autor wie Doderer hat in seinen Dämonen die 'Apperzeptionsverweigerung', die Weigerung wahrzunehmen, als das Syndrom des zoon agnoian echon erkannt. Und in der Existenzpsychologie, z. B. im Werk Viktor E. Frankls, ist die 'noologische Dimension' des Menschen, sowie die Behandlung seiner Leiden durch 'Logotherapie' wiederentdeckt worden. Es wäre nicht überraschend, wenn früher oder später Psychologen oder Sozialwissenschaftler die klassische Analyse noetischer Existenz als die angemessene theoretische Basis für die Psychopathologie des 'Zeitalters' entdecken würden. (146; Fs)
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