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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Stichwort: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 4); Parmenides (Grund d. Existenz, nous, logos, IST); Anaxagoras (G. d. Realität; nous als Quelle d. Ordnung im Kosmos); psyche (Seele): Ort des göttlichen aition

Kurzinhalt: Der Mensch, der Fragen stellt, und der göttliche Grund, auf den sich die Fragen richten, verschmelzen miteinander in der Erfahrung des Fragens als einer göttlich-menschlichen Begegnung, und sie tauchen aus dieser Verschmelzung wieder auf als die ...

Textausschnitt: 20/6 Der nous hatte die Aufmerksamkeit der vorsokratischen Denker, besonders des Parmenides und des Anaxagoras, auf sich gezogen im Zusammenhang mit ihren Erfahrungen von verstehbaren Strukturen in der Realität. Parmenides hatte die Bezeichnung nous für die Fähigkeit des Menschen verwendet, zur Schau des Seins aufzusteigen, und die Bezeichnung logos für die Fähigkeit, den Inhalt dieser Schau zu analysieren. Er zog den präanalytischen Inhalt seiner Vision in den nicht-gegenständlichen Ausruf 'IST' zusammen. Die Erfahrung war so stark, daß sie zur Identifizierung von nous und Sein neigte, von noein und einai (B 3). Im Taumel der Vision verschmolzen der Erkennende und das Erkannte zu der einen wahren Realität (aletheia), um erst dann wieder getrennt zu werden, als der logos daranging, diese Erfahrung zu untersuchen und die geeigneten Sprachsymbole für ihren Ausdruck zu finden. Von diesem parmenideischen Ausbruch hat die Erfahrung der klassischen Philosophen die Erbschaft übernommen, daß der Mensch mit nous begabt ist (das aristotelische zoon noun echon), was seine Seele zu einem Sensorium des göttlichen aition macht, sowie das Gespür für die Konsubstantialität des menschlichen nous mit dem aition, das er in seinem Bewußtsein erfaßt. (135; Fs; tblStw: Ordnung)

Kommentar (vom 07/12/2008): Vgl. zu nous (nus): Schadewaldt, SCHWPH, 559 ff.

21/6 Während Parmenides die noetische Fähigkeit differenzierte, den Grund der Existenz zu erfassen, beschäftigte sich Anaxagoras mit der Erfahrung einer verstehbaren Struktur in der Realität. Konnte das göttliche aition wirklich eines der Elemente sein, wie frühere Denker angenommen hatten, die den Göttern des Mythos noch näher waren, oder mußte es nicht statt dessen eher eine gestaltende Kraft sein, die der Materie Form geben konnte? Anaxagoras entschied sich für den nous als die Quelle verstehbarer Ordnung im Kosmos und wurde für diese Einsicht von Aristoteles hoch gepriesen. Von zwei Seiten her also, der des Erkennenden und der des Erkannten, hatten sich die Erfahrungen von intellektueller Wahrnehmung und von einer intelligiblen Struktur, die geistig wahrgenommen werden konnte, zunächst unabhängig voneinander entwickelt. Jetzt standen sie bereit zu verschmelzen in der Entdeckung der menschlichen psyche als dem Sensorium des göttlichen aition und zugleich als dem Ort, an dem sich diese gestaltende Kraft manifestiert. (135f; Fs)

22/6 Die Differenzierung der psyche erweitert die Suche nach dem Grund um die Dimension kritischen Bewußtseins. Denn die kompakteren Symbole des Mythos oder der Vor-sokratiker können nicht unangefochten bleiben, sobald die Erfahrungsprozesse der psyche als die empirische Quelle erkannt worden sind, von der die Symbole ihre Gültigkeit ableiten. Der Mensch, der Fragen stellt, und der göttliche Grund, auf den sich die Fragen richten, verschmelzen miteinander in der Erfahrung des Fragens als einer göttlich-menschlichen Begegnung, und sie tauchen aus dieser Verschmelzung wieder auf als die Partizipierenden an dieser Begegnung, welche die Durchsichtigkeit und Struktur von Bewußtsein hat. (136; Fs)

23/6 In der platonisch-aristotelischen Erfahrung trägt die fragende Unruhe ihre beruhigende Antwort in sich, da der Mensch zu seiner Suche nach dem Grund bewegt wird durch den göttlichen Grund, nach dem er auf der Suche ist. Der Grund ist nicht ein räumlich entfernter Gegenstand, sondern eine göttliche Gegenwart, die in der Erfahrung der Unruhe und des Begehrens nach dem Wissen offenbar wird. Das Sich-verwundern und Fragen wird als der Beginn eines theophanischen Ereignisses erfahren, das nur dann ganz durchsichtig für sich selbst werden kann, wenn es die entsprechende Antwort in der psyche konkreter Menschen findet - wie im Fall der klassischen Philosophen. Folglich ist Philosophie nicht ein Korpus von 'Ideen' oder 'Meinungen' über den göttlichen Grund, unter die Leute gebracht durch eine Person, die sich selbst Philosoph nennt, sondern der Sachverhalt, daß ein Mensch auf die fragende Unruhe antwortet und ihr nachspürt bis zu dem göttlichen Ursprung, der die Unruhe erregt hat. Wenn dieses Nachspüren jedoch wirklich dem göttlichen Beweger antwortend entgegenkommen soll, erfordert dies den Versuch, die Erfahrung durch geeignete Sprachsymbole zu artikulieren. Und dieser Versuch führt zu der Einsicht in die noetische Struktur der psyche. (136f; Fs)

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