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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gnosis; Widerspruch zur Realität, Machtwille d. Gnostikers -> Phantasiebefriedigung;
Glaube (Definition: Hebräerbrief, Thomas) - Unsicherheit -> Sehnsucht nach "sicherem" Wissen; Beispiele aus 3 Kulturkreisen

Kurzinhalt: ... welchen seelischen Gewinn der Denker aus der Konstruktion seines Bildes zieht ... Und dieser Gewinn nun scheint ... in einer stärkeren Gewißheit über den Sinn der menschlichen Existenz, in einem neuen Wissen um die Zukunft, die vor uns liegt ...

Textausschnitt: VI (eü: Glaube, Gefährdung)

122a In den drei Fällen von More, Hobbes und Hegel konnten wir feststellen, daß der Denker einen wesentlichen Realitätsfaktor unterdrückt, um ein Menschen-, Gesellschafts- oder Geschichtsbild nach seinem Wunsche konstruieren zu können. Wenn wir uns nun die Frage vorlegen, warum der Denker sein Bild im Widerspruch zur Realität konstruiert, so kann die Antwort nicht auf der Ebene theoretischer Argumente gefunden werden, denn wir bewegen uns offenbar jenseits der Ratio, wenn die Beziehung zur Realität so schwer gestört ist, daß wesentliche Realitätsfaktoren von der Betrachtung prinzipiell ausgeschlossen werden. Wir müssen psychologisch fragen, und eine erste Antwort hat sich schon im Verlauf der Darstellung ergeben: Der Machtwille des Gnostikers, der die Welt beherrschen will, hat den Sieg davongetragen über die Demut der Unterordnung unter die Seinsverfassung. Die Antwort wird uns jedoch nicht voll befriedigen, wenn wir bedenken, daß zwar der Machtwille den Sieg über die Demut davongetragen hat, daß aber das Ergebnis des Sieges nicht wirklicher Machterwerb ist. Die Seinsverfassung bleibt, was sie ist, jenseits der Machtbegierden des Denkers; sie wird nicht dadurch verändert, daß ein Denker ein Programm zu ihrer Änderung entwirft und sich einbildet, er könnte das Programm verwirklichen. Das Ergebnis ist also nicht Herrschaft über das Sein, sondern eine Phantasiebefriedigung. (Fs) (notabene)

123a Wir müssen daher weiterfragen, welchen seelischen Gewinn der Denker aus der Konstruktion seines Bildes zieht und welche seelischen Bedürfnisse der massenhaft ihm folgenden Menschen durch seine Bilder befriedigt werden. Und dieser Gewinn nun scheint, soweit das aus den vorgelegten Materialien hervorgeht, in einer stärkeren Gewißheit über den Sinn der menschlichen Existenz, in einem neuen Wissen um die Zukunft, die vor uns liegt, und in der Schaffung einer sicheren Basis für das Handeln in die Zukunft hinein zu bestehen. Sicherheiten dieser Art aber werden gesucht, wenn sich der Mensch in allen diesen Punkten unsicher fühlt. Wenn wir dann weiter nach den Gründen der Unsicherheit fragen, so stoßen wir auf Züge der Seinsordnung und der Stellung des Menschen in ihr, die allerdings Anlaß zu Unsicherheit geben - einer Unsicherheit, die vielleicht so schwer zu ertragen ist, daß sie als zureichendes Motiv für die Schaffung von Phantasiesicherheiten anerkannt werden darf. Betrachten wir einige dieser Züge. (Fs)

123b Als die beherrschende Symbolik der gnostischen Spekulation erwies sich ein Komplex von Derivaten der christlichen Vollendungsidee. Offenbar steckt in dieser Idee ein Unsicherheitsfaktor, der die Menschen bewegt, nach festerem Grund für ihre Existenz in dieser Welt zu suchen. Es wird daher angezeigt sein, zuerst den Glauben im christlichen Sinn als Quelle der Unsicherheit zu erwägen. (Fs)

123c Der Glaube wird im Hebräerbrief 11,1 definiert als die Substanz der Dinge, auf die wir hoffen, und der Beweis der Dinge, die wir nicht sehen. Das ist die Glaubensdefinition, die der theologischen Exposition bei Thomas zugrunde liegt. Die Definition besteht aus zwei Teilen - aus einem ersten ontologischen und einem zweiten erkenntnistheoretischen Satz. Der ontologische Satz besagt, daß der Glaube die Substanz der Dinge sei, auf die wir hoffen. In nichts anderem als eben dem Glauben besteht die Substanz dieser Dinge, nicht etwa in ihrer theologischen Symbolik. Der zweite Satz besagt, daß der Glaube der Beweis der Dinge sei, die wir nicht sehen. Wieder besteht der Beweis in nichts anderem als eben dem Glauben. (Fs; tblStw: Glaube) (notabene)
124a Dieser Glaubensfaden, an dem alle Gewißheit betreffend jenseitig-göttliches Sein hängt, ist in der Tat sehr dünn. Nichts Greifbares ist dem Menschen gegeben. Die Substanz und der Beweis des Unsichtbaren ist durch nichts gesichert als den Glauben, den der Mensch aus der Stärke seiner Seele erhalten muß - wobei wir in dieser psychologischen Betrachtung das Gnadenproblem außer acht lassen. Nicht alle Menschen sind solcher Seelenstärke fähig; die meisten bedürfen institutioneller Hilfe; und auch sie wird nicht immer genügen. Wir stehen vor der seltsamen Situation, daß der christliche Glaube um so mehr gefährdet ist, je weiter er sich sozial ausbreitet, je mehr Menschen er durch institutionellen Druck umfaßt und je klarer er in seinem Wesen herausgearbeitet wird. Im hohen Mittelalter hatte die Gefährdung durch sozialen Massenerfolg den kritischen Punkt erreicht. Das Christentum hatte in der Tat die Menschen der westlichen Gesellschaft institutionell erfaßt; und in der neuen Stadtkultur war unter dem Einfluß der großen Ordensbewegungen sein Wesen zu hoher Klarheit gelangt; und gleichzeitig mit seiner Größe war auch seine Schwäche sichtbar geworden: große Massen von christianisierten Menschen, die nicht stark genug waren für das heroische Abenteuer des Glaubens, wurden anfällig für Ideen, die ihnen einen höheren Grad von Gewißheit über den Sinn ihrer Existenz geben konnten als der Glaube. Die Realität des Seins, wie sie vom Christentum in ihrer Wahrheit erkannt wird, ist schwer zu ertragen; und die Flucht vor der klar gesehenen Realität in gnostischen Konstruktionen wird wohl immer ein Phänomen von weiter Ausbreitung bleiben, wo das Christentum eine Zivilisation durchdrungen hat. (Fs) (notabene)

124b Die Versuchung zum Fall von der ungewissen Wahrheit in die gewisse Unwahrheit ist in der Glaubensklarheit des Christentums stärker als in anderen geistigen Strukturen. Aber das Fehlen des sicheren Griffs in die Realität sowie die hohe Anforderung an die seelische Spannkraft des Menschen sind generell charakteristisch für die Grenzerlebnisse, in denen sich das Wissen des Menschen um transzendentes Sein und damit um den Ursprung und Sinn diesseitigen Seins konstituiert. Dies sei kurz an drei Beispielen aus verschiedenen Kulturkreisen dargestellt - aus dem jüdischen, dem hellenischen und dem islamischen. (Fs)

125a Im jüdischen Bereich respondiert der Glaube der Offenbarung Gottes. Das zentrale Offenbarungserlebnis finden wir in Exodus 3, in der Dornbuschepisode, überliefert. Gott offenbart sich Moses in seinem Wesen durch die Formel: 'Ich bin, der ich bin'. Wie die Formel des Hebräerbriefes bei Thomas die Grundlage für die Theologie des Glaubens ist, so ist die Exodusformel bei ihm die Grundlage der Gotteslehre. Wieder kann man von dieser Formel nur sagen: Das ist alles. Im menschlich-seelischen Berührungspunkt der Welt mit dem Jenseits wird nichts erfahren als die Existenz Gottes. Alles, was darüber hinausgeht, gehört in den Bereich der analogisch-spekulativen Erschließung und der mythischen Symbolisierung. Auch im Offenbarungserlebnis des Moses müssen wir feststellen, daß der Faden, an dem unser Wissen um die Seinsordnung, ihren Ursprung und ihren Sinn hängt, sehr dünn ist. Er war in der Tat so dünn, daß er riß und das Volk in Massen zu den alten Göttern der polytheistischen Kultur zurückkehrte. Ja noch mehr, der Prophet Jeremias machte die scharfsinnige Beobachtung, daß die Völker im allgemeinen nicht von ihren Göttern abfallen, obwohl sie 'falsche Götter' sind, und daß gerade Israel, das den 'wahren Gott' hat, von ihm abfällt. Dieser einzigartige Fall in der Völkergeschichte der Zeit bezeugt wohl am deutlichsten das Phänomen, das wir eben bei Anlaß des Glaubenserlebnisses beobachten, daß mit der Verfeinerung und Klärung der Beziehung zwischen Mensch und Gott das Moment der Unsicherheit und mit ihm das Bedürfnis massiverer Sicherheit sich verstärkt. Das Beispiel Israels zeigt weiter, daß der Abfall keineswegs in die eine oder andere Form der Gnosis erfolgen muß; wenn die kulturgeschichtliche Situation es erlebnismäßig gestattet, kann das Sicherheitsbedürfnis sich auch in der Form des Rückfalls in noch lebendigen Polytheismus befriedigen. (Fs) (notabene)

125b Die hohe Anforderung an die seelische Spannkraft des Menschen sei verdeutlicht durch die Symbolik des Letzten Gerichts, wie Platon sie im Gorgias entwickelt. Seinen sophistischen Gegnern, die mit der innerweltlichen Erfolgsethik des Machtmenschen arbeiten, hält er entgegen, daß der 'Erfolg' des Lebens im Bestehen vor den Richtern der Toten liege. Vor diesen Richtern steht der Mensch seelisch nackt, ohne die Hülle des Leibes und die Verkleidung des weltlichen Status, in völliger Durchschaubarkeit. Und im Hinblick auf diese letzte Durchschaubarkeit, sub specie mortis, sei das Leben in der Welt zu führen, nicht unter dem Antrieb des Machtwillens und der Befriedigung des sozialen Status. Was im platonischen, wie in jedem Gerichtsmythos, seinen symbolischen Ausdruck findet, ist das Grenzerlebnis der Gewissensprüfung. Über die normale Prüfung unserer Handlungen an den Maßstäben rationaler Macht, die man Gewissen nennt und die wir selbst als Menschen vornehmen, hinaus kann das Erlebnis der Prüfung meditativ durchgearbeitet und erweitert werden zum Erlebnis des Stehens im Gericht. Der Mensch weiß, daß auch der gewissenhaftesten Selbstprüfung die Schranken seiner Menschlichkeit gezogen sind: intellektuelles Versagen im Urteil, prinzipiell unvollständige Kenntnis aller Faktoren der Situation und aller verzweigten Folgen des Handelns und vor allem unzureichende Kenntnis der eigenen letzten Motive, die ins Unbewußte hinunterreichen. Ausgehend von diesem Wissen um die Schranken, die der Selbstprüfung gesetzt sind, kann im meditativen Experiment die Situation imaginiert werden, in der der Mensch nicht an einem bestimmten Punkt in einer bestimmten Situation seines eigenen Lebens vor sich selbst zur Prüfung steht, sondern mit dem Ganzen seines Lebens (das erst im Tod vollendet ist) vor einem allwissenden Richter, vor dem es kein abwägendes Prüfen im einzelnen mehr gibt, kein Argument und keine Verteidigung mehr möglich ist, weil alles, auch das Letzte und Fernste, schon gewußt ist. In dieser Meditation auf die Grenze hin verstummt alles Für und Wider, und nichts bleibt als das Schweigen des Urteils, das der Mensch durch sein Leben über sich selbst gesprochen hat. (Fs)

126a Platon hat diese Meditation vollzogen - denn sonst hätte er seinen Mythos des Gerichts nicht dichten können -, aber wenn wir uns in die Situation versetzen, in der er seinen Sokrates den Mythos den sophistischen Gegnern erzählen läßt, und uns die Frage nach der Möglichkeit seiner Wirkung auf diese hartgesottenen, im 'Leben' stehenden Realpolitiker vorlegen, dann müssen wir wieder zweifeln, daß viele ihn sich zu Herzen nehmen und ihre Existenz durch ihn formen lassen, wenn sie auch ihn hörend für einen Augenblick im Innersten betroffen werden. Die Meditation selbst, und noch mehr die Existenz in ihrer Spannung, dürfte für die meisten Menschen unerträglich sein. Jedenfalls finden wir, gerade in den gnostischen Massenbewegungen, eine Entwicklung des Gewissensbegriffs, die von der Meditation auf die Grenze hin weg in die entgegengesetzte Richtung der Verweltlichung führt. Das Gewissen wird auch heute noch gerne berufen, besonders gerne wenn eine unsittliche oder verbrecherische Handlung eines Politikers dadurch gerechtfertigt werden soll, daß er 'seinem Gewissen' folge oder sich 'seiner Verantwortung' bewußt sei. Aber das Gewissen bedeutet in diesen Fällen nicht mehr die Selbstprüfung der Handlung an den rationalen Grundsätzen der Moral, sondern im Gegenteil das Abschneiden der rationalen Argumente und das dämonisch-verstockte Beharren auf dem Handeln, zu dem die Leidenschaft treibt. (Fs) (notabene)

127a Für die hohe Anforderung an die seelische Spannkraft diene als abschließendes Beispiel die islamische Gebetspraxis, die sich seit dem 9. Jahrhundert entwickelt hat. In ihrer Struktur ist die Meditation, die dem Gebet voranzugehen hat, aufs nächste verwandt mit dem meditativen Experiment, das dem platonischen Mythos vom Letzten Gericht zugrunde liegt. Wenn ich beten will, so lautet die Vorschrift, gehe ich zu dem Ort, an dem ich mein Gebet verrichten will. Ich sitze still, bis ich in Ruhe bin. Dann stehe ich auf: die Kaaba ist gerade vor mir, das Paradies zu meiner Rechten, die Hölle zu meiner Linken, und der Engel des Todes steht hinter mir. Dann verrichte ich mein Gebet, als ob es mein letztes wäre. Und so stehe ich, zwischen Hoffnung und Furcht, und weiß nicht, ob Gott mein Gebet gnädig angenommen hat oder nicht. - Vielleicht steht für die Massen auch diese hohe, geistige Klarheit in einem Zusammenhang, der sie erträglich macht, mit der weder hohen noch besonders geistigen Ausbreitung des Gottesreiches durch Waffengewalt über die Ökumene. (Fs)

128a Die gnostischen Massenbewegungen unserer Zeit verraten durch ihre Symbolik den Derivativcharakter ihres Zusammenhanges mit dem Christentum und seinem Glaubenserlebnis. Das Problem des Abfalles von einer geistigen Höhe, die den Unsicherheitsfaktor zu letzter Klarheit bringt, in die massive Gewißheit innerweltlicher Sinnerfüllung scheint jedoch ein generell menschliches Problem zu sein. Die Fälle der Grenzerlebnisse, an denen der Unsicherheitsfaktor der Seinsverfassung deutlich wird, wurden aus vier verschiedenen Zivilisationskreisen gewählt, um zu zeigen, daß es sich bei den modernen Massenbewegungen trotz ihrer historischen Einzigartigkeit um ein typisches Phänomen handelt. Empirisch wird diese Einsicht vielleicht manches zum Verständnis sozialer Prozesse in verschiedenen Zivilisationen beitragen. Theoretisch ist es gelungen, das Phänomen bis in die ontischen Wurzeln zurückzuverfolgen, und es unter ontologische Typenbegriffe zu bringen. Und das ist die Aufgabe der Wissenschaft." (E, 21.12.00; ergänzt mit dem weiteren Text am 24.09.2012)

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