Autor: Voegelin, Eric Buch: Der Gottesmord Titel: Der Gottesmord Stichwort: Gnosis, Joachim; trinitarisches Schema, 4 Symbole: 1. Drittes Reich, Dreiteilung d. Geschichte (Biondo, Comte, Hegel, Marx, Schelling) 2. Führer (Franz, Übermensch, Dante, Sektierer) 3. Vorläufer 4. Gemeinschaft Kurzinhalt: Ein zweiter Komplex von Symbolen, der die modernen gnostischen Massenbewegungen durchzieht, wurde durch die Geschichtsspekulation des Joachim von Flora am Ende des 12. Jahrhunderts geschaffen. Textausschnitt: V (eü: Joachim)
112a Ein zweiter Komplex von Symbolen, der die modernen gnostischen Massenbewegungen durchzieht, wurde durch die Geschichtsspekulation des Joachim von Flora am Ende des 12. Jahrhunderts geschaffen. (Fs)
112b Die historische Spekulation des Joachim richtet sich gegen die damals herrschende Geschichtsphilosophie des Augustinus. In der augustinischen Konstruktion war die Geschichtsphase seit Christus das sechste, das letzte irdische Zeitalter; es war das saeculum senescens, die Zeit der Vergreisung der Menschheit. Die Gegenwart hatte keine irdische Zukunft; ihr Sinn erschöpfte sich im Warten auf das Ende der Geschichte durch die eschatologischen Ereignisse. Es war ein Geschichtsbild, dessen Motive in den Erfahrungen des 5. Jahrhunderts zu suchen sind, in dem es entstanden war: zur Zeit Augustins schien in der Tat, wenn nicht die Welt, so doch eine Welt ihrem Ende entgegenzugehen. Aber die Vorstellung von der vergreisenden, auf ihr Ende wartenden Welt konnte nicht die Menschheit der 12. Jahrhunderts in Westeuropa befriedigen, denn deren Welt war allzu offenbar nicht im Untergehen, sondern, im Gegenteil, im Aufstieg. Die Bevölkerung vermehrte sich, das Siedlungsgebiet dehnte sich aus, der Reichtum wuchs, Städte wurden gegründet, und das geistige Leben intensivierte sich, vor allem durch die großen Ordensbewegungen seit Cluny. Dieser aufsteigenden, zivilisatorisch sich sättigenden, vitalen Zeit mußte die Vorstellung der Vergreisung als sinnwidrig erscheinen. (Fs)
112c Die Spekulation des Joachim ging, wie er selbst, aus der Ordensbewegung hervor. Joachim entwarf sein Geschichtsbild nach einem trinitarischen Schema. Die Weltgeschichte war eine Folge von drei großen Zeitaltern - des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Das erste Zeitalter hatte von der Erschaffung der Welt bis zu Christus gedauert; das zweite, das des Sohnes, hatte mit Christus begonnen. Aber das Zeitalter des Sohnes war nicht wie bei Augustinus das letzte der Menschheit, sondern es sollte ihm ein weiteres, das des Heiligen Geistes, folgen. Wir erkennen, wenn auch noch durchaus im christlichen Raum, die ersten Symptome der Idee einer nachchristlichen Zeit. Joachim erging sich ferner in konkreten Spekulationen über den Beginn der Zeit des Geistes - sie sollte mit 1260 einsetzen. Und das neue Zeitalter sollte, ebenso wie die vorangehenden, durch eine Führererscheinung eingeleitet werden. Wie das erste Zeitalter mit Abraham, das zweite mit Christus begann, so sollte das dritte im Jahre 1260 mit der Erscheinung eines dux e Babylone beginnen. (Fs) (notabene)
113a Soweit die joachitische Spekulation. Wir können in ihr einen Komplex von vier Symbolen erkennen, die seither für die politischen Massenbewegungen der Neuzeit charakteristisch geblieben sind. (Fs)
113b Das erste dieser Symbole ist das des Dritten Reiches, d.h. die Vorstellung von einer dritten weltgeschichtlichen Phase, die zugleich die letzte der Vollendung ist. (Fs)
113c Zu den Drei-Phasen-Symbolen gehört eine umfangreiche Klasse gnostischer Ideen. Als erste, und vor allem, wäre die humanistische Gliederung der Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit zu nennen. Die Gliederung stammt in ihrer ursprünglichen Fassung von Biondo; sie setzte als das Mittelalter das Jahrtausend von der Eroberung Roms durch die Westgoten bis zum Jahre 1410 an. Im 18. Jahrhundert beginnen dann die Drei-Phasen-Gesetze, die durch Turgot und Comte berühmt geworden sind: die Weltgeschichte gliedert sich in eine erste theologische, eine zweite metaphysische Phase und eine dritte der positiven Wissenschaft. Bei Hegel finden wir eine Dreiteilung der Weltgeschichte nach Stufen der Freiheit: von der alten Zeit der orientalischen Despotien, in denen nur einer frei war, über die aristokratischen Zeiten, in denen wenige frei waren, bis zu der neuen Zeit, in der alle frei sind. Marx und Engels haben das Dreiteilungsschema auf ihre Proletariatsproblematik angewandt und sprachen von einer ersten Phase des Urkommunismus, einer zweiten der bürgerlichen Klassengesellschaft und einer dritten der klassenlosen Gesellschaft, in der das endkommunistische Reich der Freiheit verwirklicht wird. Schelling wieder hat in seiner Geschichtsspekulation die drei großen Phasen des Christentums unterschieden: die erste, die petrinische, gefolgt von einer zweiten, der paulinischen, die von einer dritten, der johanneischen des vollendeten Christentums, abzuschließen sein wird. (113f; Fs)
114a Damit sind nur die Hauptfälle genannt, um zu zeigen, daß die Vorstellung von einem Dritten Reich der Vollendung in der Tat ein beherrschendes Symbol im Selbstverständnis der modernen Gesellschaft ist und daß nach mehrhundertjähriger Vorbereitung auf Dritte Endreiche der Versuch, sie durch revolutionäre Aktion in der Tat herbeizuführen, nicht mehr allzusehr überraschen dürfte. Die Aufzählung sollte ferner daran erinnern, daß ein Erlebnis- und Symboltypus, der in Jahrhunderten aufgebaut worden ist, wohl kaum über Nacht seine beherrschende Stellung in der westlichen Geschichte verlieren wird. (Fs)
114b Das zweite von Joachim entwickelte Symbol ist das des Führers, des dux, der zu Anfang eines neuen Zeitalters erscheint und durch seine Erscheinung das Zeitalter begründet. Das Symbol wurde von den erlösungssüchtigen Zeitgenossen Joachims mit Begierde aufgegriffen. Der erste, der ihm zum Opfer fiel, war Franz von Assisi. Er wurde von so vielen als der Führer in das Reich des Heiligen Geistes angesehen, daß er sich zu besonderen Maßnahmen gezwungen sah, um diesem Mißverständnis seiner durchaus orthodoxen Aktionen vorzubeugen. Trotz seiner Bemühungen blieb der Glaube an Franziskus als den Führer des Dritten Reiches lebendig und hat noch aufs stärkste Dante in seiner Konzeption einer solchen Führererscheinung beeinflußt. Die Idee beherrschte weiter die Sektenbewegungen der Renaissance und Reformation - ihre Führer waren die vom Geist Gottes besessenen Parakleten, und ihre Anhänger waren die homines novi oder spirituales. Über Dante ist die Vorstellung eines dux des neuen Reiches wieder lebendig geworden in der nationalsozialistischen und faschistischen Zeit. Es gibt eine deutsche und italienische Literatur, in der jeweils Hitler und Mussolini als die von Dante geweissagten Führer gefeiert werden. (Fs)
114c In der säkularistischen Periode konnten die Führer nicht als gottbesessene Parakleten vorgestellt werden. Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts beginnt ein neues Symbol, das des 'Übermenschen', an die Stelle der älteren Sektiererkategorien zu treten. Der Ausdruck, von Goethe im Faust geprägt, wird im 19. Jahrhundert von Marx und Nietzsche zur Bezeichnung des neuen Menschen im Dritten Reich gebraucht. Der Prozeß, in dem der Übermensch geschaffen wird, ist nahe verwandt mit der geistigen Bewegung, in der die älteren Sektierer als [sic] Substanz Gottes in sich hineinziehen und sich zum godded man, zum vergotteten Menschen, verwandeln. Gott wird von den säkularistischen Sektierern als eine Projektion menschlicher Seelensubstanz in die illusionäre Räumlichkeit des 'Jenseits' verstanden. Diese Illusion kann psychologisch aufgelöst und der 'Gott' aus seinem Jenseits wieder in die menschliche Seele zurückgeholt werden, aus der er stammt. Durch die Auflösung der Illusion wird die göttliche Substanz dem Menschen wieder einverleibt, und der Mensch wird zum Übermenschen. Die Zurücknahme Gottes in den Menschen hat, ebenso wie bei den älteren Sektierern, zum Ergebnis die Schöpfung eines Menschentypus, der sich als jenseits der institutionellen Bindungen und Verpflichtungen stehend erlebt. Als die Haupttypen des Übermenschen können wir unterscheiden den progressivistischen Übermenschen Condorcets (der sogar die Aussicht auf ewiges irdisches Leben hat), den positivistischen Comtes, den kommunistischen von Marx und den dionysischen Nietzsches. (114f; Fs)
115a Das dritte der joachitischen Symbole ist das des Vorläufers. Joachim hatte angenommen, daß der Führer eines jeden Zeitalters einen Vorläufer habe, so wie Christus Johannes den Täufer. Auch der Führer aus der Babylonischen Gefangenschaft, der 1260 erscheinen sollte, hat einen solchen Vorläufer - in diesem Falle Joachim selbst. Mit der Schöpfung des Vorläufersymbols ist ein neuer Typus in die westliche Geschichte eingetreten: der Intellektuelle, der das Rezept der Erlösung von den Übelständen der Welt kennt und der voraussagen kann, wie die Weltgeschichte in Zukunft weiterverlaufen wird. In der joachitischen Spekulation war der Intellektuelle noch tief in das Medium des Christentums eingebettet, insofern als Joachim sich als den Propheten des kommenden, von Gott gesandten dux e Babylone verstand. Im weiteren Verlauf der westlichen Geschichte ist die christliche Einbettung abgebröckelt; der Verkünder, der Vorläufer des Führers, ist zum Intellektuellen im säkularistischen Sinne geworden - zum Intellektuellen, der glaubt, den Sinn der weltimmanent verstandenen Geschichte zu kennen und die Zukunft voraussagen zu können. In der politischen Praxis ist die Gestalt des Intellektuellen, der das Zukunftsbild der Geschichte entwirft und Voraussagen macht, nicht immer klar von der des Führers zu trennen. Im Falle Comtes z.B. sehen wir zweifellos die Gestalt eines Führers vor uns, aber gleichzeitig ist Comte auch der Intellektuelle, der seine eigene Rolle als Führer der Weltgeschichte prognostiziert und darüber hinaus sogar sich durch Magie meditativer Praxis aus dem Intellektuellen in den Führer verwandelt. Auch im Falle des Kommunismus sind Führer und Intellektueller in der Person eines Karl Marx kaum scharf zu trennen; aber durch die geschichtliche Gestalt der Bewegung sind doch Marx und Engels als die 'Vorläufer' durch den Abstand einer Generation von Lenin und Stalin als den 'Führern' der Verwirklichung des Reiches getrennt worden. (115f; Fs)
116a Das vierte der joachitischen Symbole ist die Gemeinschaft der geistig autonomen Personen. Im Sinne des Monastizismus der Zeit stellte sich Joachim das Dritte Reich als eine Gemeinschaft von Mönchen vor. Das für unseren Zusammenhang Wesentliche an dieser Vorstellung ist die Idee einer vergeisteten Menschheit, die ohne die Vermittlung und Stütze von Institutionen in Gemeinschaft existieren kann, denn die geistige Gemeinschaft der Mönche in der joachitischen Idee sollte ohne die sakramentale Stütze der Kirche bestehen. In dieser freien Gemeinschaft autonomer Personen ohne institutionelle Organisation erkennen wir die Gemeinschaftssymbolik moderner Massenbewegungen, die sich das Endreich als eine freie Gemeinschaft von Menschen, nach dem Absterben des Staates und anderer Institutionen, vorstellen. Im Kommunismus ist die Symbolik am deutlichsten zu erkennen; aber auch die Idee der Demokratie lebt nicht unerheblich von der Symbolik einer Gemeinschaft autonomer Menschen. (Fs)
116b Damit wäre die Darstellung der joachitischen Symbole abgeschlossen. Wir erkennen in ihnen einen der großen Symbolkomplexe, der in den modernen politischen Massenbewegungen aktiv geworden und es bis heute geblieben ist. (Fs) ____________________________
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