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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gnosis, Symbolik; christliche Vollendungsidee: sanctificatio, visio beatifica -> teleologische, axiologische Vollendung (E. Troeltsch); 3 Typen gnostischer Vollendung: 1. Fortschritt (Kant), 2. Utopie 8 (Moore), Ideale 3. aktivistische Mystik

Kurzinhalt: Wenn die teleologische Komponente immanentisiert wird, liegt das Hauptgewicht der gnostisch-politischen Idee auf der Vorwärtsbewegung ... eim zweiten Typus der Derivation, beim axiologischen, liegt das Gewicht der Idee auf dem Zustand der Vollendung ...

Textausschnitt: III (eg: gnostische Derivationen: teleologische, axiologisch, Mischung

109b In den modernen Massenbewegungen hat sich die gnostische Haltung, zu ihrem angemessenen Ausdruck, eine reiche, vielgestaltige Symbolik geschaffen. Sie ist so reich, daß sie in diesem Zusammenhang nicht vollständig dargestellt werden kann: nur einige der wichtigsten Symbolkomplexe können herausgehoben werden. Als ersten wollen wir den Komplex von Symbolen behandeln, die sich als Abwandlungen der christlichen Vollendungsidee erkennen lassen. (Fs)

109b Unter der christlichen Vollendungsidee soll die Einsicht verstanden werden, daß die menschliche Natur ihre Vollendung nicht in dieser Welt findet, sondern nur in der Visio beatifica, in der übernatürlichen Vollendung durch Gnade im Tod. Wenn es also keine diesseitige Vollendung gibt, so empfängt das christliche Leben doch seine besondere Form durch das Hinleben auf die jenseitige; es wird gestaltet durch die sanctificatio, durch die Heiligung des Lebens. In der christlichen Vollendungsidee lassen sich daher zwei Komponenten unterscheiden. Die erste Komponente ist die der Bewegung auf das Vollendungsziel hin, die durch den Ausdruck 'Heiligung des Lebens', im englischen Puritanismus durch die Formel vom pilgrim's progress, beschrieben wird. Sie wird als die der Bewegung auf ein Ziel hin die teleologische Komponente genannt. Das Ziel ferner, das telos, auf das sich die Bewegung richtet, wird als das der letzten Vollendung verstanden; und da das Ziel ein Zustand höchsten Wertranges ist, wird diese zweite Komponente die axiologische genannt. Die beiden Komponenten, die teleologische und die axiologische, wurden von Ernst Troeltsch unterschieden. (Fs) (notabene)

109c Die Vollendungsideen der gnostischen Massenbewegungen leiten sich von der christlichen her. Gemäß den eben unterschiedenen Komponenten gibt es prinzipiell drei Möglichkeiten der Derivation. In der gnostischen Vollendung, die sich innerhalb der geschichtlichen Welt ereignen soll, können entweder die teleologischen und axiologischen Komponenten jede für sich immanentisiert werden oder beide zugleich. Im folgenden werden einige Beispiele für die drei Typen der Immanentisierung gegeben. (Fs)

110a Zum ersten Typus der Derivation, zum teleologischen, gehört der Progressivismus in allen seinen Varianten. Wenn die teleologische Komponente immanentisiert wird, liegt das Hauptgewicht der gnostisch-politischen Idee auf der Vorwärtsbewegung, auf der Bewegung auf ein Vollendungsziel in der Welt hin. Das Ziel selbst braucht nicht allzu genau erfaßt zu sein; es mag in nicht mehr bestehen als in der idealisierenden Überhöhung dieser oder jener für wertvoll gehaltenen Züge der Situation des jeweiligen Denkers. Zu dieser teleologischen Variante der Gnosis gehören die Fortschrittsideen des 18. Jahrhunderts, wie z.B. die von Kant oder Condorcet. Nach der Kantschen Idee des Fortschritts bewegt sich die Menschheit in unendlicher Annäherung auf das Ziel einer vollkommenen, rationalen Existenz einer weltbürgerlichen Gesellschaft hin - wenn auch zu Ehre Kants gesagt werden muß, daß er in diesem unendlichen Fortschritt der Menschheit keine Erlösung des individuellen Menschen zu finden vermochte und die Relevanz des Fortschritts für die Vollendung der Person ihm daher fragwürdig schien. Condorcet war etwas weniger geduldig als Kant - er wollte die Vollendung der Menschheit nicht dem unendlichen Progreß der Geschichte überlassen, sondern sie durch ein Direktorium von Intellektuellen beschleunigen. Aber damit nähert sich seine progressivistische Idee schon dem dritten Typus, dem der aktivistischen Vollendung, wie denn die drei Typen bei den einzelnen gnostischen Denkern nur selten rein, sondern meistens in mannigfachen Verbindungen zu finden sind. (Fs)

110b Beim zweiten Typus der Derivation, beim axiologischen, liegt das Gewicht der Idee auf dem Zustand der Vollendung in der Welt. Der Zustand vollkommener Gesellschaftsordnung wird im einzelnen ausgearbeitet und beschrieben und nimmt dadurch die Gestalt eines Idealbildes an. Ein solches Idealbild wurde zum erstenmal von Thomas More in seiner Utopia entworfen. Aber nicht immer muß das Bild der Vollendung so sorgfältig durchgearbeitet sein wie bei More. Sehr viel häufiger sind die Vorstellungen von einem für wertvoll gehaltenen Endzustand, die als Negationen eines spezifischen Übels der Welt zu verstehen sind. Die Liste der Übel ist seit dem Altertum bekannt; sie wurde von Hesiod entwickelt. Es handelt sich vor allem um Armut, Krankheit, Tod, die Last der Arbeit und die Sexualnöte. Das sind die Hauptklassen des Existenzdrucks. An sie knüpfen die Gesellschaftsbilder an, die spezifische Erlösung vom einen oder anderen dieser Übel gewähren. Fragmentarische Vollendungsideen dieser Art mögen Ideale genannt werden, um sie von den vollständigen Bildern der utopischen Klasse zu unterscheiden. Wir verstehen also unter Idealen Utopiefragmente, wie die Idee einer eigentumslosen Gesellschaft oder die Idee einer Gesellschaft, die frei ist von den Übeln des Arbeitsdrucks, der Krankheit, der Angst usw. Für die Gesamtklasse dieser axiologischen Derivate ist charakteristisch, daß sie ein verhältnismäßig klares Bild von dem für wünschenswert gehaltenen Zustand entwerfen, aber sich nicht näher auf die Mittel einlassen, durch die er herbeigeführt werden soll. (Fs) (notabene)

111a Beim dritten Typus der Derivation, in dem beide Komponenten zusammen immanentisiert werden, ist beides vorhanden: eine Vorstellung vom Endziel und ein Wissen um die Methoden, es herbeizuführen. Von den Fällen des dritten Typus wollen wir als aktivistischer Mystik sprechen. Zu ihnen gehören vor allem Bewegungen, die sich von Auguste Comte und Karl Marx herleiten. In beiden Fällen findet sich eine relativ klare Vorstellung vom Zustand der Vollendung, bei Comte von einem Endzustand der industriellen Gesellschaft unter der temporalen Herrschaft der Manager und der spirituellen und positivistischen Intellektuellen, bei Marx von dem Endzustand eines klassenlosen Reiches der Freiheit. Und in beiden Fällen besteht Klarheit über den Weg zur Vollendung, bei Comte durch die Wandlung des Menschen zu seiner höchsten Form, zu der des Positivisten, bei Marx durch die Revolution des Proletariats und die Wandlung des Menschen zum kommunistischhen Übermenschen. (Fs)

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