Autor: Voegelin, Eric Buch: Der Gottesmord Titel: Der Gottesmord Stichwort: Gnosis, gnostische Massenbewegungen; Progressivismus, Positivismus, Marxismus, Psychoanalyse, Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus; Comte (Beispiel: Beziehung: Intellektuellen- und Massenbewegung), Positivismus, Altruismus Kurzinhalt: Keine der genannten Bewegungen hat als Massenbewegung begonnen, alle sind von Intellektuellen und kleinen Gruppen ausgegangen. Manche von ihnen sollten nach der Absicht ihrer Gründer zu politischen Massenbewegungen werden und sind es dann nicht geworden. Textausschnitt: Die gnostischen Massenbewegungen unserer Zeit.
105a Der Ausdruck 'gnostische Massenbewegungen' ist nicht allgemein gebräuchlich. Wenn man ihn liest, wird man daher zuerst eine Definition erwarten. Das ist aber nicht möglich, denn Definitionen stehen, aus methodischen Gründen, am Ende einer Analyse, nicht an ihrem Anfang; und wenn die Analyse sorgfältig durchgeführt worden ist, sind die Definitionen nicht mehr von allzu großer Bedeutung, da sie nicht mehr geben können als eine Zusammenfassung des Resultates der Analyse. Ich werde der aristotelischen Methode folgen, von dem zu untersuchenden Gegenstand zuerst exemplarisch zu sprechen, um dann, wenn der Gegenstand auf der Common-sense-Ebene in unserer Umwelt sichergestellt ist, zur Analyse fortzuschreiten. (105; Fs)
I (eg: Comte, Positivismus )
105b Unter gnostischen Bewegungen sollen Bewegungen von der Art des Progressivismus, des Positivismus, des Marxismus, der Psychoanalyse, des Kommunismus, des Faschismus und des Nationalsozialismus verstanden werden. Es handelt sich also nicht in allen diesen Fällen um politische Massenbewegungen. Einige von ihren würden besser als Intellektuellenbewegungen bezeichnet werden, wie etwa der Positivismus, der Neopositivismus und die Varianten der Psychoanalyse. Wir werden darauf aufmerksam, daß Massenbewegungen nicht ein eigenständiges Phänomen sind und daß der Unterschied von Massen und intellektuellen Eliten vielleicht nicht so groß ist, wie konventionell angenommen wird, wenn er überhaupt besteht. In der sozialen Realität jedenfalls gehen die beiden Typen ineinander über. Keine der genannten Bewegungen hat als Massenbewegung begonnen, alle sind von Intellektuellen und kleinen Gruppen ausgegangen. Manche von ihnen sollten nach der Absicht ihrer Gründer zu politischen Massenbewegungen werden und sind es dann nicht geworden. Andere sind als Intellektuellenbewegungen gemeint gewesen, wie etwa der Neopositivismus oder die Psychoanalyse, und haben, wenn sie auch nicht den Charakter einer politischen Massenbewegung angenommen haben, so doch Erfolg von Massencharakter gehabt, insofern als ihre Theorie und ihr Vokabular das Denken von Millionen von Menschen in der westlichen Welt geformt haben, sehr oft ohne daß sie sich dessen bewußt sind. (105f; Fs)
106a Als repräsentatives Beispiel für die Beziehung zwischen Intellektuellen- und Massenbewegung sei der Fall des Comteschen Positivismus kurz umrissen. Er war eine Intellektuellenbewegung, die mit Saint-Simon, mit Comte und seinen Freunden begann und nach der Absicht ihrer Gründer eine Massenbewegung von erdweitem Umfang werden sollte. Die gesamte Menschheit sollte zur Mitgliedschaft der Positivistengemeinde unter der geistigen Führung des Fondateur de la religion de l'humanite werden. Comte versuchte in diplomatische Korrespondenz mit Nikolaus I., mit dem Jesuitengeneral und mit dem Großwesir zu treten, um die russische Orthodoxie, die katholische Kirche und den Islam dem Positivismus einzugliedern. Wenn auch diese grandiosen Pläne fehlschlugen, so wurde doch Bedeutendes erreicht. Es hat starke positivistische Bewegungen, vor allem in Südamerika, gegeben; und die Brasilianische Republik hat bis heute das Comtesche Motto 'Ordnung und Fortschritt' in ihrem Wappen. In Europa hat der Comteismus die besten Köpfe der Zeit beschäftigt; er hat John Stuart Mill entscheidend beeinflußt; und der Nachklang des Comteschen Geschichtsbildes ist noch in der Philosophie Max Webers, Ernst Cassirers und Edmund Husserls zu hören. Die ganze westliche Welt schließlich verdankt Comte das Wort 'Altruismus', den säkularistisch-innerweltlichen Ersatz für die 'Liebe', die des Christentums verdächtig ist: der Altruismus ist die Grundlage für das Konzept einer Menschheit von Brüdern ohne Vater. Am Beispiel des Positivismus sieht man vielleicht am klarsten, wie die Probleme von Intellektuellen- und Massenbewegungen ineinander übergehen. (106f; Fs)
Unter gnostischen Bewegungen sollen Bewegungen von der Art des Progressivismus, des Positivismus, des Marxismus, der Psychoanalyse, des Kommunismus, des Faschismus und des Nationalsozialismus verstanden werden.
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In Europa hat der Comteismus die besten Köpfe der Zeit beschäftigt; er hat John Stuart Mill entscheidend beeinflußt; und der Nachklang des Comteschen Geschichtsbildes ist noch in der Philosophie Max Webers, Ernst Cassirers und Edmund Husserls zu hören. ____________________________
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