Autor: Voegelin, Eric Buch: Der Gottesmord Titel: Der Gottesmord Stichwort: Gottesmord, Gnosis; Hegel, Phänomenologie; Tod Gottes als Tat des Dialektikers; letzte Gestalt des Geistes = das absolute Wissen; "der Geist als System erfordert den Gottesmord" Kurzinhalt: Gott ist gestorben, weil er nicht mehr als eine Phase des Bewußtseins war, die jetzt überholt ist; und sie ist überholt, weil das Bewußtsein in seiner dialektischen Aktion über sie hinausgegangen ist. Der Tod Gottes ist nicht ein Ereignis, sondern ... Textausschnitt: 100c Die kritischen Proklamationen von Marx verweisen auf Hegel zurück. Bedenken wir noch einmal die Phänomenologie, dieses magnum opus des Gottesmordes. (Fs)
100d Wir können es nicht mehr als reflektierend bedenken. Ein Durchdenken und Durchanalysieren ist in diesem Falle unmöglich, denn es ist ein streng konstruiertes System von fünfhundert Seiten Umfang. Der erste Satz setzt den Gegenstand der Spekulation und seine Schranken: 'Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein anderes sein als dasjenige, welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seienden ist.'1 Die Beschränkung der Seinsordnung wird darüber hinaus explizit gemacht: 'Ich, dieser, bin dieser Sache nicht darum gewiß, weil Ich als Bewußtsein hierbei mich entwickelte und mannigfaltig den Gedanken bewegte. Auch nicht darum, weil die Sache, deren ich gewiß bin, nach einer Menge unterschiedener Beschaffenheiten, eine reiche Beziehung an ihr selbst oder ein vielfaches Verhalten zu anderen wäre. Beides geht die Wahrheit der sinnlichen Gewißheit nichts an.'2 Der Charakter der Seinsordnung als vorgegebener, wie der Stellung des Menschen in ihr, wird ausgelöscht; das Sein von Ich und Welt wird beschränkt auf das Wissen des Unmittelbaren oder Seienden; die Fragen des Kontextes der Seinsordnung, in dem dieses Wissen sich ereignet, werden als irrelevant erklärt; das Frageverbot wird formell zum Prinzip der Spekulation gemacht. Von diesem Anfang her wird der Inhalt der Seinsordnung, der dem Philosophen vorgegeben ist, systematisch als die Reihe der Bewußtseinsphasen konstruiert, die sich in dialektischer Entfaltung aus dem Initialbewußtsein der sinnlichen Gewißheit ergeben. In ihrer Sprache ist die Phänomenologie philosophisch; in ihrer Substanz und Intention ist sie radikal anti-philosophisch. Sie muß als Werk der Magie erkannt, und als eines ihrer großen Werke anerkannt werden. (100f; Fs)
101a Aus diesem Meisterwerk strengster, magischer Spekulation kann nichts herausgebrochen werden, ohne den Sinn des Ganzen zu zerstören. Ich kann daher nur auf einige Stellen hinweisen, an denen der Gottesmord, der der Zweck des Unternehmens ist, thematisch wird. Der Haupttext knüpft an den Tod Christi an: 'Der Tod des Mittlers ist Tod nicht nur der natürlichen Seite desselben [...], es stirbt nicht nur die vom Wesen abgezogene schon tote Hülle, sondern auch die Abstraktion des göttlichen Wesens [...] Der Tod dieser Vorstellung enthält also zugleich den Tod der Abstraktion des göttlichen Wesens, das nicht als Selbst gesetzt ist. Er ist das schmerzliche Gefühl des unglücklichen Bewußtseins, daß Gott selbst gestorben ist.' Was sich hier als Aussage gibt, ist jedoch mehr als die einfache Feststellung eines Sachverhaltes. Denn Gott ist gestorben, weil er nicht mehr als eine Phase des Bewußtseins war, die jetzt überholt ist; und sie ist überholt, weil das Bewußtsein in seiner dialektischen Aktion über sie hinausgegangen ist. Der Tod Gottes ist nicht ein Ereignis, sondern die Tat des Dialektikers. Der 'harte Ausdruck', daß Gott gestorben sei, bezeichnet 'die Rückkehr des Bewußtseins in die Tiefe der Nacht des Ich = Ich, die nichts außer ihr mehr unterscheidet und weiß [...] Dies Wissen also ist die Begeistung, wodurch die Substanz Subjekt, ihre Abstraktion und Leblosigkeit gestorben, sie also wirklich und einfaches und allgemeines Selbstbewußtsein geworden ist.'3 Was auf der Stufe der 'Religion' noch Vorstellung von einem andern war, ist hier zum eigenen 'Tun des Selbst' geworden. Diese letzte Gestalt des Geistes ist das absolute Wissen.4 Die Religion spricht zwar früher in der Zeit als die Wissenschaft es aus, was der Geist ist; 'aber diese ist allein sein wahres Wissen von ihm selbst'.5 Wenn der Geist dem Bewußtsein im Elemente des Begriffs erscheint, oder vielmehr vom Bewußtsein in diesem Element hervorgebracht wird, dann ist er 'die Wissenschaft'.6 Der Geist, der weiß, was er ist, existiert erst, wenn er die Arbeit vollendet hat, 'sich für sein Bewußtsein die Gestalt seines Wesens zu verschaffen, und auf diese Weise sein Selbstbewußtsein mit seinem Bewußtsein auszugleichen'.7 Oder, einfacher und gerade herausgesagt: der Geist als System erfordert den Gottesmord; und umgekehrt: um den Gottesmord zu begehen, wird das System geschaffen. (Fs)
103a Die Phänomenologie endet mit einer Betrachtung über die Geschichte als die Zeit, in der der Geist zu seinem Selbstbewußtsein kommt. 'Dies Werden stellt eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern dar, eine Galerie von Bildern, deren jedes mit dem vollständigen Reichtum des Geistes ausgestattet, ebendarum sich so träge bewegt, weil das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat.'8 Ein Geisterreich entfaltet sich im zeitlichen Dasein der Geschichte, in dem jeder Geist das Reich der Welt vom vorangehenden übernimmt, bis die ganze entfaltete Geschichte zur 'Er-Innerung' in der Endphase des Selbstbewußtseins geworden ist. Das Ziel, das absolute Wissen, wird erreicht durch 'die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen'. Die Bewahrung dieser Geisterfolge nach der Zeitlichkeit ihres Daseins ist die Geschichte; ihre Bewahrung als begriffene Organisation ist die Wissenschaft des erscheinenden Wissens. Beide zusammen, als die begriffene Geschichte, 'bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Thrones, ohne den er das leblose Einsame wäre: nur -
aus dem Kelche dieses Geisterreiches
schäumt ihm seine Unendlichkeit'.9 (Fs)
103b Bei Gelegenheit der Analyse von Nietzsches Aphorismus bemerkten wir, daß der Interpret eines magischen opus nicht auf die Magie hereinfallen darf. Treten wir darum aus dem opus heraus und zurück auf den Boden der Wirklichkeit. Fragen wir uns, was in der Seinsordnung vorgeht, wenn Hegel auf der Schädelstätte des Geistes sein Werk abschließt. Wenn wir versuchen, seine Zusammenfassung unsererseits zusammenzufassen, dann müssen wir sagen: Auf dem Grab des gemordeten Gottes begeht der Golem ein schauriges Ritual: eine Art Triumphtanz mit Gesang. Das Ziel ist erreicht. Die 'Offenbarung der Tiefe' ist gelungen; aber die Tiefe ist nichts als 'der absolute Begriff'; und 'diese Offenbarung' ist darum das Aufheben der Tiefe. Eine andere Offenbarung aber gibt es nicht. Und dann ertönt der Gesang: (103f; Fs)
aus dem Kelche dieses Geisterreiches
schäumt ihm seine Unendlichkeit.
104a Diese letzten Zeilen des Werkes, die zwei als Verse gesetzten Nicht-Verse, wandeln den Schluß von Schillers Lied an 'Die Freundschaft' ab:
Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,
Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches
Schäumt ihm - die Unendlichkeit.
104b Das ist der abschließende Akt gnostischer Zerstörung der Realität. Für das Schicksal der Seinsordnung, wenn sie den Magiern in die Hände fällt, hat Hegel das Symbol gefunden: die Schändung eines Gedichts. (Fs) ____________________________
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