Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Natur als Grundlage der Moral Titel: Natur als Grundlage der Moral Stichwort: Kritik: spiritualistische, dualistische Ethik; "naturalistic fallacy"; "transgressio in aliud genus"; "proportio ad rationem" Kurzinhalt: Jede Neigung und ihr Gut werden immer als "mein" erfahren, und nicht als ein "fremder" Gegenstand; Textausschnitt: 91b [...]Die Ziele dieser natürlichen Neigungen als vormoralische Güter zu betrachten, würde dann heißen, sie besäßen überhaupt keine innere "proportio ad rationem", sie seien also, wie Thomas das ausdrückt, "indifferentes ex specie"; d. h.: sie besäßen auch im Kontext des Suppositums, also nicht nur abstrakt im "genus naturae" betrachtet, keine innere sittliche Wertbezogenheit, eine solche würden sie erst durch weitere Umstände oder Intentionen des Handelnden erhalten. (Fs)
91c Nun ist aber eben die abstrakt-ontische Betrachtung der natürlichen Neigungen und ihrer Ziele weder eine ethisch noch anthropologisch adäquate Betrachtungsweise; sie kann also auch nicht zu einem moralisch-qualifizierenden Urteil führen; und ein solches ist ja die Behauptung, sie seien "indifferente" oder "vor-moralische" Güter.1 Nicht die Ziele dieser Neigungen sind vormoralisch, sondern die abstrakte Betrachtungsweise ist hier vormoralisch - oder nicht-moralisch; sie ist als Abstraktion dieser natürlichen Neigungen, ihre Herauslösung aus dem Kontext der Person, des Suppositums, die bloße Vergegenständlichung ihres "genus naturae".2 (Fs)
92a Die von den natürlichen Neigungen erstrebten Ziele als "vormoralische" Güter zu bezeichnen, heißt demnach, eine sittliche Qualifizierung (oder genauer: "Disqualifizierung") aufgrund des "genus naturae" vorzunehmen. Dies ist jedoch eine unstatthafte "transgressio in aliud genus" und damit ein Fehlschluß, der unschwer als bloße Variante der "naturalistic fallacy" erkannt werden kann. Denn diese beruht ja gerade darauf zu mißachten, daß "genus naturae" und "genus moris" nicht auseinander ableitbar sind; daß also auf der Ebene des "genus naturae" keine sittlich qualifizierenden Prädikate möglich sind. "Moralische Indifferenz" ist aber ein solches Prädikat. (Fs)
92b Eine strukturell spiritualistische und dualistische Ethik hat ihre Basis notwendigerweise in einer abstrakt-naturalistischen Betrachtungweise von Handlungsobjekten. Es handelt sich dabei im Kontext der Ethik um einen grundlegenden Fehler, einen "error in principiis". Durch diese naturalistische Interpretation von Handlungsobjekten - basierend auf der illegitimen Ableitung objektiver (spezifischer) Indifferenz aus dem abstrakt betrachteten, aus dem Gesamtkontext des menschlichen Suppositums herausgelösten "genus naturae" der natürlichen Neigungen - müssen dann beispielsweise in einer "teleologischen Ethik" nachträglich diese als vorsittlich und ethisch indifferent qualifizierten Güter erst wieder in einen ethischen Kontext eingearbeitet werden, damit der naturalistische Ausgangspunkt überwunden werden kann. Eine solche Ethik vermag dabei jedoch den Gesamtkontext der menschlichen Person nicht mehr adäquat zu rekonstruieren, und um zu Handlungsnormen zu gelangen, muß sie "universalteleologisch" und das heißt letztlich: utilitaristisch verfahren.3 (Fs)
92c In Wirklichkeit werden diese "bona propria" - als "bona particularia" der einzelnen natürlichen Neigungen - von der praktischen Vernunft sowie in der moralphilosophischen Reflexion keineswegs in ihrem "genus naturae" objektiviert. Wie gesagt ist der ontisch-naturale Aspekt dieser Güter oder Ziele eine Abstraktion, eine Herauslösung aus dem Kontext und damit eine "Reduktion" ihrer Intelligibilität. Der Mensch ist auch als Gegenstand praktischer (Selbst-)Erfahrung nie eine bloße Summe verschiedener natürlicher Neigungen, die sich gewissermaßen zusammenhangslos dieser Erfahrung anböten. Er ist vielmehr Person, d. h. eine bestimmte Art von Suppositum, in das sowohl die "natura animalis" wie auch die "natura rationalis" - Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Geist - integriert sind. Zunächst ist jegliche Erfahrung und Erkenntnis solcher natürlicher Neigungen eine Leistung der Person als ganzer, die diese Neigungen als eigene, zu ihr gehörige erfährt. Solche Erfahrung vollzieht sich nicht abstrakt, sondern existentiell. Jede Neigung und ihr Gut werden immer als "mein" erfahren, und nicht als ein "fremder" Gegenstand, wie die mich umgebende "Natur", also personal-kontextbezogen.1 Diese Art von Erfahrung ist nur ein Niederschlag der ursprünglichen, seinsmäßigen oder anthropologischen Integration verschiedener naturaler Schichten im Suppositum. Aufgrund dieser Metaphysik des Suppositums, die eine solche Erfahrung zu erklären vermag, zeigt sich, daß jede der natürlichen Neigungen im Kontext der Person von Natur aus einen Sinnbezug besitzt, der das bloße "genus naturae" immer schon transzendiert, jedoch gerade auch durch die bloß abstrakte, herauslösende Betrachtungsweise in seiner Intelligibilität verstellt und zerstört würde. Der in einer moralischen Vergegenständlichung natürliche Sinn der natürlichen Neigungen ist ein personaler Sinn, und er ist mit ihrem "genus naturae" nicht zu identifizieren. (Fs)
93a Die Leistung der natürlichen Vernunft, deren Akte ja solche der Person sind, besteht nun gerade darin, diese Transzendenz der "bona particularia" aufgrund ihrer Integration in das Suppositum zu erfassen. In ihrem natürlichen Akt, der eine "inclinatio naturalis ad virtutem", bzw. "ad vivere secundum rationem" entspricht, erfaßt die Vernunft diese "bona particularia" als "bona humana" und somit als sittliche Güter der Gesamt-Person. Diesem Prozeß entspricht die sittliche Objektivierung von Gütern oder Werten. In ihm konstituiert sich das Objekt der praktischen Vernunft, das zum Objekt des Willens wird, der dadurch sein sittliches Gutsein erhält. Über den Willen wird dieser Inhalt auf die vom Willen selbst vollzogenen und die von ihm "befohlenen" Akte übertragen, die dadurch "actus humani", menschliche und sittliche Handlungen sind, weil sie einem "appetitus intellectivus" und letztlich der "voluntas deliberata" entspringen. (Fs)
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