Autor: Voegelin, Eric Buch: Der Gottesmord Titel: Der Gottesmord Stichwort: Gnosis, Marx; Vernunft - Konstruktion des Seinsprozesses (Frageverbot); Heidegger: Sein als An-wesen; Mensch als Dasein (Walten des Seins); Parusie des (leeren) Seins anstelle der Parusie Christi Kurzinhalt: Der Mensch ist geschichtlich zu verstehen als ein Dasein, das sich dem Walten des Seins öffnen, aber auch verschließen kann. Im geschichtlichen Prozeß kann es darum Zeiten des Abfalls vom wesenhaften Sein in das Unwesen geben... Textausschnitt: 5 (eü: Heidegger)
85a Der Wesenszusammenhang zwischen libido dominandi, System und Frageverbot ist, wenn auch keineswegs durchgearbeitet, so doch aus den Selbstzeugnissen der Gnostiker deutlich geworden. Kehren wir nun, zum letztenmal, zum Marxischen Frageverbot zurück. (85; Fs)
86a Wir erinnern uns, daß Marx den Dialog mit seinem philosophischen Fragesteller auf unsokratische Weise durch einen Ukas abbricht. Aber wenn er sich auch weigert, auf die Argumente weiter einzugehen, so begründet er die Weigerung selbst doch sehr sorgfältig aus dem Systemdenken. Er weist den Fragesteller nicht einfach ab, sondern verweist ihn auf den Weg der Vernunft. Wenn der Mensch das Problem der arche aufwirft, ermahnt ihn Marx: 'Frage dich, ob jener Prozeß als solcher für ein vernünftiges Denken existiert!'1 Der Mensch soll zur Vernunft kommen, dann wird er sein Fragen aufgeben. Die Vernunft aber ist für Marx, wieder in der Verkehrung der Symbole, nicht die Vernunft des Menschen, sondern der Standpunkt des Systems. Der Mensch soll aufhören, Mensch zu sein, er soll sozialistischer Mensch werden. Marx setzt also seine Konstruktion des Seinsprozesses, der auch den Geschichtsprozeß umschließt, als wirklich. Er überträgt die historische Entwicklung des Menschen zum sozialistischen Menschen, die zum Inhalt seiner Konstruktion gehört, aus dem System in die Wirklichkeit der Sozialbeziehung; er fordert den Menschen auf, in sein System einzutreten und die im System konstruierte Entwicklung zu vollziehen. Im Konflikt zwischen System und Wirklichkeit hat die Wirklichkeit dem System zu weichen. Der intellektuelle Schwindel wird gerechtfertigt durch den Machtanspruch der geschichtlichen Zukunft, die der gnostische Denker in seinem System spekulativ entworfen hat. (86f; Fs)
87a Die Entscheidung des gnostischen Denkers leitet ihre Autorität von der Macht des Seins ab. Er ist der Fürsprecher des Seins, das er auslegt als aus der Zukunft auf uns zukommend. In der Spekulation von Marx und Nietzsche ist diese Auslegung des Seins zwar schon lebendig, aber noch nicht bis in ihre Konsequenzen durchgearbeitet. Erst der geniale Gnostiker unserer Zeit, Heidegger, hat das Problem unter dem Titel der Fundamentalontologie durchdacht. Die folgenden Stellen zur Seinsspekulation sind seiner Einführung in die Metaphysik entnommen. (87; Fs)
87b In der Spekulation Heideggers wird das Sein, gestützt auf die griechische Grundbedeutung von parousia, als An-wesen ausgelegt.2 Das Sein ist nicht statisch als Substanz zu verstehen, sondern aktiv als Anwesen im Sinne eines Herankommens zur Präsenz, als ein Auftreten oder Erscheinen - etwa wie ein Herrscher erscheint oder anwesend ist. Das Wesen des Seins als actio ist ein Walten, in dem das Sein sich eine Welt schafft; und es schafft sich die Welt durch den Menschen.3 Der Mensch ist geschichtlich zu verstehen als ein Dasein, das sich dem Walten des Seins öffnen, aber auch verschließen kann. Im geschichtlichen Prozeß kann es darum Zeiten des Abfalls vom wesenhaften Sein in das Unwesen geben, aus denen das Dasein nur zurückfindet, wenn es sich der Parusie des Seins wieder öffnet. In der Anwendung dieser Möglichkeiten auf die Zeitgeschichte stellt Heidegger fest, ebenso wie Marx oder Nietzsche in ihrer gröberen Form, daß wir heute in der westlichen Welt in einer Zeit des Unwesens leben. Die Zukunft des Abendlandes hänge davon ab, daß wir uns der Wesensmacht des Seins wieder erschließen. Schwer von Schicksal fallen die Formeln: 'Es gilt, das geschichtliche Dasein des Menschen [...] im Ganzen der uns bestimmten Geschichte in die Macht des ursprünglich zu eröffnenden Seins zurückzuführen'; oder: das mit dem Wort 'Sein' Genannte birgt 'das geistige Schicksal des Abendlandes.'4 (87f; Fs)
88a Die Spekulation Heideggers hat ihre bedeutsame Stellung in der Geschichte der westlichen Gnosis. Die Konstruktion des in sich geschlossenen Seinsprozesses; die Verschließung des immanenten Seins gegen das weit-jenseitige; die Weigerung, die von den hellenischen Philosophen beschriebenen und benannten Erlebnisse der philia, des eros, der pistis und der elpis als die ontischen Ereignisse anzuerkennen, in denen die Seele an transzendentem Sein teilhat und sich von ihm ordnen läßt; in einem damit die Weigerung, sie als die Ereignisse anzuerkennen, in denen das Philosophieren, im besonderen das Platonische, seinen Ursprung hat; und schließlich die Weigerung, durch diese Ereignisse den Sinn der Konstruktion des geschlossenen Seinsprozesses in Frage stellen zu lassen - das alles war in verschiedenen Klarheitsgraden schon bei den spekulativen Gnostikern des neunzehnten Jahrhunderts vorhanden. Aber Heidegger hat diesen Komplex auf sein Wesensgefüge reduziert und ihn von den zeitgebundenen Zukunftsbildern gereinigt. Verschwunden sind die skurrilen Bilder vom positivistischen, vom sozialistischen und vom Über-Menschen. An ihre Stelle kann Heidegger das von allem Inhalt entleerte Sein selbst setzen, in dessen auf uns zukommende Macht wir uns zu fügen haben. Durch den Reinigungsprozeß ist das Wesen der gnostischen Spekulation geklärt worden als der symbolische Ausdruck einer Heilserwartung, in der die Seinsmacht an die Stelle der Gottesmacht tritt, und die Parusie des Seins an die Stelle der Parusie Christi. (88f; Fs)
____________________________
|