Autor: Lonergan, Bernard J.F. Buch: Die Einsicht Titel: Die Einsicht Bd. I und II Stichwort: Befangenheit, Scotosis Kurzinhalt: Grundsätzlich ist die Scotosis ein unbewußter Prozeß. Sie tritt nicht in bewußten Akten auf, sondern in der Zensurfunktion, welche das Aufkommen psychischer Inhalte lenkt. Textausschnitt: 1. Der Common Sense als intellektuell (173-81)
212b Das Licht und das Streben der intelligenten Untersuchung entfaltet sich methodisch in der Mathematik und in den empirischen Wissenschaften. Im Kinde ist es ein geheimes Wunder, das in einer Kaskade von Fragen herausbricht, wenn einmal das Geheimnis der Sprache erschlossen ist. Nur zu früh geht die Kontrolle über das Fragen verloren und überdrüssige Erwachsene werden immer häufiger getrieben, sich mit der Ausrede herauszuwinden: 'Mein Liebes, das kannst du noch nicht verstehen.' Das Kind möchte alles auf einmal verstehen. Es vermutet nicht, daß es in der Akkumulation von Einsichten eine Strategie gibt; daß die Antworten auf viele Fragen von wieder anderen Fragen abhängen; daß oft genug das Aufmerken auf diese anderen Fragen nur durch die Einsicht erfolgt, daß man, um interessanten Fragen zu begegnet, bei recht uninteressanten beginnen muß. Es gibt also den Forschungsgeist selbst, der allen Menschen gemeinsam ist und in dem die wissenschaftliche Einstellung besteht. In seinem Urzustande ist er allerdings ungeschult. Unsere intellektuellen Karrieren beginnen im unablässigen 'Was?' und 'Warum?' der Kindheit zu knospen. Sie kommen zum Blühen nur dann, wenn wir gewillt oder gezwungen sind, das Lernen zu erlernen. Sie bringen nur Früchte nach der Entdeckung, daß wir die Antworten, wollen wir sie wirklich in den Griff bekommen, irgendwie für uns selbst herausfinden müssen. (212f; Fs)
213a So wie es die spontane Untersuchung gibt, so gibt es auch eine spontane Anhäufung zusammenhängender Einsichten. Denn Fragen sind nicht ein Aggregat isolierter Monaden. Insofern auf eine Frage eine Einsicht folgt, muß man nur auf der Basis dieser Einsicht handeln oder sprechen oder vielleicht auch nur denken, damit deren Unvollständigkeit ans Licht tritt und so zu einer neuen Frage führt. Insofern dieser weiteren Frage wiederum durch die befriedigende Antwort einer weiteren Einsicht begegnet wird, wird derselbe Prozeß wiederum einen anderen Aspekt der Unvollkommenheit ans Licht bringen und damit Anlaß geben zu noch weiteren Fragen und weiteren Einsichten. Derart ist der spontane Prozeß des Lernens. Er ist eine Anhäufung von Einsichten, in denen jeder aufeinanderfolgende Akt die Genauigkeit der vorgehenden Akte vervollständigt und ihre Unzulänglichkeit überdeckt. So wie der Mathematiker von Bildern durch Einsichten und Formulierungen zu Symbolen fortschreitet, welche weitere Einsichten stimulieren, so wie der Wissenschaftler von Daten durch Einsichten und Formulierungen zu Experimenten fortschreitet, welche weitere Einsichten stimulieren, so ist auch der spontane und selbstkorrigierende Lernprozeß ein Kreislauf, in welchem Einsichten ihre Unzulänglichkeiten offenbaren, indem sie zu Taten oder Worten oder Gedanken führen, und durch diese Offenbarung die weiteren Fragen auf den Plan rufen, welche zu weiteren Einsichten führen. (213; Fs)
213b Ein solches Lernen erfolgt nicht ohne Lehren. Denn das Lehren ist das Mitteilen von Einsicht. Es wirft die Hinweise aus, die zutreffenden Fingerzeige, welche zur Einsicht führen. Es schmeichelt der Aufmerksamkeit, um die ablenkenden Bilder zu vertreiben, welche der Einsicht im Wege stehen. Es stellt die weiteren Fragen, welche die Notwendigkeit weiterer Einsichten klarmachen, um den erworbenen Vorrat zu modifizieren und zu ergänzen. Es hat die Strategie der sich entwickelnden Intelligenz erfaßt, und es beginnt so beim Einfachen, um zum Komplizierteren fortzuschreiten. All dies wird von professionellen Lehrern, die ihren Beruf im Griff haben, bewußt und explizit getan. Worauf wir hier aber hinweisen möchten, ist, daß es auch — obwohl unbewußt und implizit — von den Eltern gegenüber ihrem Nachwuchs und von den Gleichgestellten untereinander getan wird Sprechen ist eine menschliche Elementarkunst. Mit ihrer Hilfe teilt jeder den anderen mit, was er weiß, und ruft zugleich Widersprüche hervor, die ihn auf das aufmerksam werden lassen, was er übersehen hat. Doch noch eindrucksvoller als das Sprechen ist das Tun. Taten erwecken unsere Bewunderung und spornen uns zur Nachahmung an. Wir sehen zu, um zu begreifen, wie man etwas macht. Wir experimentieren, um zu sehen, ob wir es selbst machen können. Wir sehen erneut hin um das Übersehen auszumachen, das uns scheitern ließ. Auf diese Weise gelangen die Entdeckungen und Erfindungen von Individuen in den Besitz vieler, um auf der Grundlage ihrer Erfahrung kontrolliert, der Prüfung durch ihre weiteren Fragen unterzogen und durch ihre Verbesserungen modifiziert zu werden. Aus dem gleichen Grund ist auch die spontane Zusammenarbeit von Individuen das gemeinschaftliche Entwickeln von Intelligenz in der Familie, dem Stamm, der Nation, der Rasse. Nicht nur werden die Menschen mit einem ursprünglichen Trieb zu untersuchen und zu verstehen geboren; sie werden in eine Gemeinschaft hineingeboren, welche über einen gemeinschaftlichen Fundus geprüfter Antworten verfügt, und aus diesem Fundus kann jeder seinen Anteil beziehen, ihm zugemessen entsprechend seiner Kapazität, seinen Interessen und seiner Energie. Nicht nur entfaltet sich der selbstkorrigierende Lernprozeß innerhalb des privaten Bewußtseins des Individuums; denn durch die Sprache und noch mehr durch das Beispiel wird eine anhaltende Mitteilung erwirkt, welche zugleich jeden Fortschritt weitergibt und prüft und verbessert und so die Errungenschaft jeder Generation zum Ausgangspunkt der nächstfolgenden macht. (214; Fs)
214a Wir haben von der spontanen Untersuchng, der spontanen Anhäufung von verbundenen Einsichten und der spontanen Zusammenarbeit der Mitteilung auf die Notion des Common Sense als einer intellektuellen Entwicklung hin gearbeitet. Es wird sich nun ganz natürlich die Frage nach dem genauen Inventar dieses allen zugänglichen Speichers stellen. Wie definiert er seine Termini? Welche sind seine Postulate? Welche sind die Schlußfolgerungen, die er aus den Prämissen ableitet? Wenn die Frage nun aber naheliegend genug ist, ist doch die Antwort schwieriger. Denn die Antwort beruht auf einer jener merkwürdigen Einsichten, die nur gerade eben die falsche Voraussetzung der Frage erfaßt. Definitionen, Postulate und Ableitungen sind die Formulierung einer allgemeinen Erkenntnis. Sie beziehen sich nicht auf das Einzelne, sondern auf das Allgemeine, nicht auf das Konkrete, sondern auf das Abstrakte. Der Common Sense ist im Unterschied zu den Wissenschaften eine Spezialisierung der Intelligenz auf das Einzelne und Konkrete. Er ist gemein, ohne allgemein zu sein; denn er besteht in einem Satz von Einsichten, der solange unvollständig bleibt, bis nicht zumindest eine Einsicht in die vorhandene Situation hinzukommt; und ist die Situation einmal vorbei, so ist die hinzugefügte Einsicht nicht mehr relevant, so daß der Common Sense sofort zu seinem Normalzustand der Unvollständigkeit zurückkehrt. Der Common Sense scheint von der Analogie her zu argumentieren, aber seine Analogien entziehen sich einer logischen Formulierung. Die Analogie, die der Logiker untersuchen kann, ist lediglich ein Fall der heuristischen Prämisse, daß Ähnliches ähnlich verstanden wird. Sie kann einen gültigen Beweis nur dann liefern, wenn die zwei konkreten Situationen keine signifikante Unähnlichkeit aurweisen. Der Common Sense aber kann direkt von seinen akkumulierten Einsichten her operieren, weil er nicht artikuliert zu sein braucht. Den Ähnlichkeiten der Situation entsprechend, kann er sich auf einen unvollständigen Satz von Einsichten berufen. Der signifikanten Verschiedenheit der Situationen entsprechend, kann er die verschiedenen, für jede Situation relevanten Einsichten hinzufügen. (215; Fs)
215a Der Common Sense mag also zu verallgemeinern scheinen. Aber eine Verallgemeinerung, die vom Common Sense vorgebracht wird, hat eine Bedeutung, die von der wissenschaftlichen Verallgemeinerung recht verschieden ist. Die wissenschaftliche Verallgemeinerung zielt darauf ab, eine Prämisse anzubieten, aus der korrekte Ableitungen gezogen werden können. Die vom Common Sense angebotenen Verallgemeinerungen sind aber nicht als Prämissen für Ableitungen gemeint. Sie wollen vielmehr Fingerzeige vermitteln, die es normalerweise nützlich ist [sic], im Gedächtnis zu behalten. Sprichwörter sind weit älter als Prinzipien, und sie verlieren — ähnlich den grammatischen Regeln — ihre Gültigkeit nicht ob ihrer vielen Ausnahmen. Sie zielen nämlich nicht darauf ab, den abgerundeten Satz von Einsichten des Wissenschaftlers auszudrücken, der entweder für alle Fälle gilt oder für keinen, sondern den unvollständigen Satz von Einsichten, auf den man sich in jedem konkreten Fall bezieht, der aber unmittelbar relevant wird, nur wenn ein ausgiebiges Herumsehen zu den notwendigen zusätzlichen Einsichten geführt hat. Sieh hin, ehe du springst! (215; Fs)
215a Nicht nur unterscheidet sich der Common Sense von der Logik und von der Wissenschaft in der Bedeutung, die er den Analogien und Verallgemeinerungen zuweist. In all seinen Äußerungen operiert er von einem besonderen Gesichtspunkt her und verfolgt ein ihm eigenes Ideal. Die heuristischen Annahmen der Wissenschaft nehmen die Bestimmung von Naturen vorweg, welche immer in derselben Weise unter ähnlichen Umständen handeln, und ebenso die Bestimmung von idealen Normen der Wahrscheinlichkeit, von denen die Ereignisse nur in nichtsystematischer Weise divergieren. Wenn sich der Wissenschaftler auch darüber im klaren ist, daß er diese Bestimmungen nur durch eine Reihe von Annäherungen erreichen wird, weiß er doch auch, daß selbst annähernde Bestimmungen die logischen Eigenschaften der abstrakten Wahrheit besitzen müssen. Die Termini müssen demnach unzweideutig definiert sein, und sie müssen exakt immer in dieser unzweideutigen Bedeutung verwendet werden. Die Postulate müssen aufgestellt werden ihre Voraussetzungen müssen untersucht werden, ihre Implikationen erforscht. Daraus resultiert automatisch eine technische Sprache und eine formale Sprechweise. Man ist nicht nur gezwungen, zu sagen, was man meint, und zu meinen, was man sagt, sondern die Übereinstimmung zwischen Meinen und Sagen hat auch die exakte Einfachheit solcher primitiver Äußerungen wie: 'Dies ist eine Katze.' (215f; Fs)
216a Der Common Sense strebt seinerseits nie nach einer allgemein gültigen Erkenntnis und er versucht auch nie, erschöpfend mitzuteilen. Sein Interesse gilt dem Konkreten und dem Einzelnen. Seine Funktion ist es, jede Situation zu meistern, wie sie eben aufkommt. Seine Vorgehensweise besteht darin, einen unvollständigen Satz von Einsichten zu erzielen, der allein dadurch zu vervollständigen ist, daß man bei jeder Gelegenheit die weiteren Einsichten hinzufügt, welche die Untersuchung der Gelegenheit ergibt. Es wäre falsch, wenn der Common Sense versuchte, seinen unvollständigen Satz von Einsichten in Definitionen und Postulaten zu formulieren und ihre Voraussetzungen und Implikationen auszuarbeiten. Denn der unvollständige Satz ist nicht das Verstehen irgendeiner konkreten Situation oder irgendeiner allgemeinen Wahrheit. Ebenso wäre es ein Irrtum für den Common Sense, eine systematische Formulierung seines vervollständigten Satzes von Einsichten in einem bestimmten Falle zu versuchen; denn jede systematische Formulierung hat das Allgemeine im Visier; und jede konkrete Situation ist partikulär. (216; Fs)
216b Es folgt, daß der Common Sense mit einer technischen Sprache nichts anfangen kann und keine Tendenz zu einer formalen Sprechweise hat. Er ist damit einverstanden, daß man sagen soll, was man meint, und meinen, was man sagt. Aber seine Übereinstimmung zwischen Sagen und Meinen ist zugleich subtil und fließend. Wie das Sprichwort sagt, ist ein Zwinkern ebenso gut wie ein Nicken, d.h. ein kurzer Wink genügt. Denn der Common Sense sagt nicht nur, was er meint; er sagt es jemandem; er beginnt damit, die Intelligenz des Gesprächspartners zu sondieren; er schreitet fort, indem er bestimmt, welche weiteren Einsichten diesem mitgeteilt werden müssen; er unternimmt diese Mitteilung nicht als eine Übung in formaler Logik, sondern als ein Kunstwerk; und er hat zu seiner Verfügung nicht nur alle Ressourcen der Sprache, sondern auch die Unterstützung des modulierten Klanges und des wechselnden Tonvolumens, die Eloquenz des Gesichtsausdruckes, die Emphase der Gesten, die Wirksamkeit von Pausen, die Suggestivkraft von Fragen, die Bedeutsamkeit von Auslassungen. Es folgt, daß der einzige Interpret von Common Sense-Äußerungen der Common Sense selbst ist. Denn die Relation zwischen Sagen und Meinen ist die Relation zwischen sinnfälligen Vorstellungen und intellektuellem Erfassen, und wenn diese Relation so einfach und exakt wie in der Aussage 'Dies ist eine Katze' sein kann, so kann sie doch auch all die Zartheit und Subtilität, all die Geschwindigkeit und Wirksamkeit annehmen, mit der eine inkarnierte Intelligenz ihr Erfassen einer anderen Intelligenz mitteilen kann, indem sie erfaßt, was die andere noch zu erfassen hat, und welche Handlung oder welches Zeichen oder welcher Ton sie zu diesem Erfassen führen könnten. Eine solche Vorgehensweise ist offensichtlich logisch, wenn man mit 'logisch' 'intelligent und vernünftig' meint. Ebenso offensichtlich ist eine solche Vorgehensweise nicht logisch, wenn man mit 'logisch' die Konformität mit einem Satz allgemeiner Regeln meint, die für jeden Fall aus einem definierten Bereich gültig sind; denn kein Satz allgemeiner Regeln kann mit der Findigkeit der Intelligenz in ihrer Anpassung an die Möglichkeiten und Anforderungen konkreter Aufgaben der Selbst-Mitteilung Schritt halten. (216f; Fs)
217a Genau so wie die elliptischen Äußerungen des Common Sense einen tieferen Grund haben, als viele Logiker und praktisch alle Polemiker erreichen konnten, so ist auch die Ebene der Realität, auf die sich die Common Sense-Bedeutung bezieht, von der Ebene verschieden, welche die Wissenschaft erforscht. Es ist gesagt worden, daß die Wissenschaft von der Beschreibung zur Erklärung fortschreitet, von den Dingen in Relation zu unseren Sinnen durch Messungen zu den Dingen in Relation zueinander. Es ist klar, daß sich der Common Sense nicht mit den Relationen der Dinge zueinander beschäftigt, und daß er nicht die technischen Termini verwendet, welche die Wissenschaftler erfinden, um diese Relationen auszudrücken. Dieser offensichtliche Unterschied liefert nun aber keine Prämisse für den Schluß, daß das Objekt der wissenschaftlichen Beschreibung dasselbe ist wie das Objekt der Common Sense-Mitteilung. Es ist wohl wahr, daß beide Äußerungstypen mit den Dingen in Relation zu unseren Sinnen zu tun haben. Aber es ist auch wahr, daß sie dies von verschiedenen Gesichtspunkten her und mit verschiedenem Ziel tun. Wissenschaftliche Beschreibung ist das Werk eines ausgebildeten wissenschaftlichen Beobachters. Sie leistet der Forderung des Logikers nach vollständiger Artikuliertheit und erschöpfender Aussage Genüge. Sie trägt das Gepräge der Vorwegnahme des Wissenschaftlers, die reinen Konjugate zu erzielen, welche die Relationen der Dinge zueinander ausdrücken. Denn wenn die wissenschaftliche Beschreibung sich auch auf Dinge in Relation zu unseren Sinnen bezieht, so tut sie das mit einem weiter liegenden Zweck und unter der Anleitung einer Methode, die auf dessen Realisierung hinstrebt. (217; Fs)
217b Der Common Sense hat andererseits keinerlei theoretische Neigungen. Er verbleibt vollständig in der vertrauten Welt der Dinge für uns. Die weiteren Fragen, durch die er Einsichten ansammelt, werden eingeschränkt durch die Interessen und Sorgen des menschlichen Lebens, durch die erfolgreiche Erfüllung der Alltagspflichten, durch die Entdeckung umittelbarer Lösungen, welche funktionieren In der Tat ist der höchste Kanon des Common Sense die Beschränkung weiterer Fragen auf den Bereich des Konkreten und Einzelnen, des Unmittelbaren und Praktischen. Im Common Sense vorwärtszukommen bedeutet, die allesverschlingende Tendenz der untersuchenden Intelligenz zurückzuhalten und jede Frage, deren Beantwortung keinen unmittelbar handgreiflichen Unterschied zur Folge hat, als irrelevant, wenn nicht gar töricht zur Seite zu wischen. So wie der Wissenschaftler sich gegen die Einführung in seinen Forschungsbereich von metaphysischen Fragen, die seinem Kanon der Selektion nicht genügen, in herbem Protest verwehrt, so ist der Mann des Common Sense (und nur des Common Sense!) allzeit auf der Hut vor aller Theorie, stets bereit, den Vorbringer von Ideen milde zu fragen, welchen Unterschied diese machen würden, und sich dann, wenn die Antwort weniger lebhaft und weniger schnell als ein Reklamespruch ausfällt, nur noch darum besorgt, eine Entschuldigung auszudenken, um den Kerl loszuwerden. Common Sense-Menschen sind nämlich beschäftigt. Sie haben die Arbeit dieser Welt zu tun. (217f; Fs) (notabene)
218a Wie kann nun aber die Arbeit dieser Welt intelligent oder effizient getan werden, wenn sie von Common Sense-Menschen getan wird, die sich keine Sekunde lang über wissenschaftliche Methode Gedanken machen? Diese Frage kann, glaube ich, beantwortet werden, wenn wir bei einer anderen beginnen. Warum benötigen Wissenschaftler die wissenschaftliche Methode? Warum müssen so intelligente Menschen belastet werden mit der Ausrüstung von Laboratorien und langweiligen Büchern aus Fachbibliotheken? Warum müssen sie in Beobachtung und Logik geschult werden? Warum sollen sie auf abstruse Fachwörter und abstraktes Räsonnieren verpflichtet werden? Klar deshalb, weil ihr Forschen vom Vertrauten zum Unvertrauten fortschreitet, vom Offensichtlichen zum Entlegenen. Sie haben sich den Dingen in Relation zu uns in der Art und Weise zuzuwenden, welche zu den Dingen als in Relation zueinander führt. Wenn sie die allgemeinen Beziehungen der Dinge zueinander erreichen, bemühen sie sich jenseits des angestammten Bereiches der Einsicht in sinnliche Vorstellungen, und sie benötigen die Krücken der Methode, um ihr Hinsehen auf Dinge zu fixieren, die weder sinnlich gegeben, noch konkret, noch partikulär sind. (218; Fs)
218b Der Common Sense hat andererseits keinerlei derartige Bestrebungen. Er hält es mit dem Unmittelbaren und Praktischen, dem Konkreten und Einzelnen. Er verbleibt in der vertrauten Welt der Dinge für uns. Raketen und Weltraumstationen sind überflüssig, wenn man beabsichtigt, auf dieser Erde zu bleiben. Ebenso ist die wissenschaftliche Methode überflüssig für die Ausübung der Aufgaben des Common Sense. Wie die Wissenschaften ist er eine Anhäufung verbundener Einsichten in die Daten der Erfahrung. Wie die Wissenschaften ist er die Frucht einer weitreichenden Zusammenarbeit. Wie die Wissenschaften wurde er nach seinen praktischen Resultaten geprüft. Und doch gibt es einen tiefen Unterschied. Die Wissenschaften haben nämlich theoretische Absichten, und der Common Sense hat keine. Die Wissenschaften wollen präzise und mit allgemeiner Gültigkeit sprechen; aber der Common Sense nur zu Personen und nur über das Konkrete und Einzelne. Die Wissenschaften benötigen Methoden, um ihre abstrakten und allgemeinen Objekte zu erreichen; aber die Wissenschaftler benötigen den Common Sense, um ihre Methoden angemessen anzuwenden, wenn sie die konkreten Aufgaben der einzelnen Untersuchungen ausführen, so wie auch die Logiker den Common Sense benötigen, wenn sie verstehen sollen, was in jedem konkreten Akt menschlicher Äußerung gemeint ist. Es ist bewiesen worden, daß eine Komplementarität zwischen klassischen und statistischen Untersuchungen besteht; es ist jetzt vielleicht evident geworden, daß das Ganze der Wissenschaften und dazu der Logik eine Entwicklung der Intelligenz ist, welche zu der Entwicklung, die wir Common Sense nennen, komplementär ist. Die rationale Wahl ist nicht zwischen Wissenschaft und Common Sense; sie ist vielmehr die Wahl beider: der Wissenschaft, um das Allgemeine zu meistern, und des Common Sense, um das Partikuläre anzugehen. (219; Fs) (notabene)
219a Es bleibt, die Differenzierungen des Common Sense zu erwähnen. Denn mehr noch als die Wissenschaften ist der Common Sense in spezialisierte Abteilungen aufgeteilt. Für jeden Unterschied in der Geographie, für jeden Unterschied in der Beschäftigung, für jeden Unterschied in den sozialen Einrichtungen gibt es eine entsprechende Variation des Common Sense. An einem gegebenen Ort, in einem bestimmten Beruf und in einer bestimmten Gruppe von Menschen kann ein Mensch in intelligenter Mühelosigkeit jeder Situation begegnen, in der er sprechen oder handeln soll. Er weiß jederzeit, was los ist, was richtigerweise gesagt werden soll, was eben getan werden muß und wie man es anpacken soll. Seine Erfahrung hat ihn durch den Kreis von Eventualitäten geführt, welche in seinem Milieu vorkommen. Seine Intelligenz ist immer wach gewesen. Er hat Fehler gemacht und er hat gelernt, sie nicht zweimal zu begehen. Er hat jene Verstandesschärfe entwickelt, welche Bewegungen zur Kenntnis nimmt, die von der vertrauten Routine abweichen; die Besonnenheit, welche diese abschätzt, ehe er sich in einen Handlungsverlauf einläßt; den Erfindungsreichtum, der die Antwort findet, welche dem neuen Problem begegnet. Er ist eine Verkörperung des Ideales des Common Sense; aber seine Leistung ist nur für seine Umgebung relevant. Man verlege ihn unter andere Menschen an einen anderen Ort oder in einen anderen Beruf, und solange er sich damit noch nicht vertraut gemacht hat, solange er sich noch nicht einen neuen Satz von Einsichten erworben hat, kann er Zaudern und Ungeschicklichkeiten nicht vermeiden. Er muß neu wieder lernen, worum es geht; er muß mit den Tricks eines neuen Berufes vertraut werden; er muß in kleinen Zeichen die sich verändernden Gemütslagen derer herausspüren, mit denen er zu tun hat. Derart ist also die Spezialisierung des Common Sense. Er paßt sofort die Individuen in jeder Lebenslage an die Arbeit an, die sie gewählt haben, oder an das Los, das ihnen zugefallen ist und außerdem bringt er all jene ganz kleinen Unterschiede der Gesichtspunkte und Mentalitäten hervor, welche Männer und Frauen trennen, alt und jung, Stadt und Land, bis schließlich die kumulativen Unterschiede und das gegenseitige Unverständnis der verschiedenen Gesellschaftsschichten, verschiedenen Nationen, verschiedenen Zivilisationen und verschiedenen historischen Epochen der menschlichen Geschichte erreicht werden. (219f; Fs)
220a Wir haben versucht, die intellektuelle Komponente im Common Sense zu begreifen. Wir begannen bei den spontanen Fragen, den spontanen Anhäufungen von Einsichten und der spontanen Zusammenarbeit, um sie zu prüfen und verbessern. Als nächstes formulierten wir die zentrale Notion eines habituellen aber unvollständigen Satzes von Einsichten, der durch geeignete Variationen in jedem konkreten Satz von Umständen vervollständigt wird, die Reden oder Handeln verlangen. Es wurde gezeigt, daß eine derartige intellektuelle Entwicklung nicht nur auf eine Meisterung des Konkreten und Einzelnen abzielt, sondern ihr Ziel auch auf eine konkrete und partikuläre Weise erreicht, welche mit den allgemeinen Regeln der Logik und den allgemeinen Methoden der Wissenschaft kontrastiert, indes eine notwendige Ergänzung sowohl für die konkrete Verwendung allgemeiner Techniken als auch die konkrete Anwendung allgemeiner Konklusionen liefert. Schließlich wandten wir uns den Differenzierungen des Common Sense zu, welche sich nicht durch theoretische Unterschiede wie die Abteilungen der Wissenschaft, sondern durch die empirischen Unterschiede von Ort und Zeit, Umständen und Milieu vermehren. (220; Fs) ____________________________
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