Datenbank/Lektüre


Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Modernes politisches Denken - Gnosis; Literatur; Fehlen von Denkwerkzeugen

Kurzinhalt: Europa hat keine Denkwerkzeuge, um das Furchtbare, das sich ereignete, zu erfassen... es gab keine Wissenschaft von den nicht-christlichen, nicht-nationalen Geistes- und Massenbewegungen, in die das christliche, nationalstaatliche Europa im Begriff ...

Textausschnitt: 57a Moderne politische Denker und Bewegungen unter dem Titel der 'Gnosis' behandelt zu sehen, dürfte den Leser überraschen. Da der Stand der Wissenschaft in diesen Fragen der breiteren Öffentlichkeit noch wenig bekannt ist, wird eine einführende Erklärung nicht unwillkommen sein. (Fs)

57b Daß eine Hauptlinie der europäischen und im besonderen der deutschen Denkbewegung gnostischen Charakter habe, klingt heute ungewohnt, ist aber nicht eine neue Erkenntnis. Bis vor etwa hundert Jahren war der Sachverhalt noch bekannt. Ferdinand Christian Baurs monumentales Werk über Die christliche Gnosis, oder die Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung ist im Jahre 1835 erschienen. Im letzten Teil dieses Werkes werden unter dem Titel »Die alte Gnosis und die neuere Religionsphilosophie« abgehandelt: (1) Die Böhmesche Theosophie; (2) Die Schellingsche Naturphilosophie; (3) Die Schleiermachersche Glaubenslehre; (4) Die Hegelsche Religionsphilosophie. Die Spekulation des deutschen Idealismus wird richtig in ihren Zusammenhang der gnostischen Bewegung seit dem Altertum gestellt. Das Werk Baurs war ferner nicht eine isolierte Erscheinung - es stand selber schon am Ende einer hundertjährigen Befassung mit der Ketzergeschichte; einem Wissenschaftszweig, der nicht ohne Grund gleichzeitig mit der Aufklärung gewachsen ist. Ich nenne nur Mosheims enzyklopädischen Versuch einer unpartheiischen und gründlichen Ketzergeschichte, 2. Aufl., 1748 und zwei Werke über die alte Gnosis, die in Baurs Zeit hineinreichen: Neanders Genetische Entwicklung der vornehmsten gnostischen Systeme von 1818 und Matters Histoire critique du Gnosticisme et de son influence sur les sectes religieuses et philosophiques des six premiers siècles de l'ère chrétienne von 1828. Daß in der Aufklärung und im Idealismus die gnostische Bewegung sich zu massiver Sozialrelevanz erhob, war wohlverstanden. (Fs)

58a Der Stand des Wissens und des Selbstverständnisses der westlichen Kultur ist in dieser Frage, wie in so vielen anderen, erst in der liberalen Ära, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verschüttet worden, in der Zeit der positivistischen Geistes- und Gesellschaftswissenschaft. Die Verschüttung war so gründlich, daß die gnostische Bewegung, als sie ihre revolutionäre Phase erreichte, in ihrem Wesen nicht mehr erkannt werden konnte. Die Bewegungen, die an Marx und Bakunin anknüpften, der frühe Lenin, der Sorelsche Mythos der Gewalt, die Intellektuellenbewegung des neuen Positivismus, die kommunistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Revolutionen fielen in die Zeit eines heute schon der Vergangenheit angehörenden Tiefstandes der Wissenschaft. Europa hat keine Denkwerkzeuge, um das Furchtbare, das sich ereignete, zu erfassen. Es gab eine Wissenschaft von den christlichen Kirchen und Sekten; es gab eine Staatslehre, die in den Kategorien des souveränen Nationalstaates und seiner Institutionen dachte; es gab die Anfänge einer Soziologie der Macht und der Herrschaftsformen; aber es gab keine Wissenschaft von den nicht-christlichen, nicht-nationalen Geistes- und Massenbewegungen, in die das christliche, nationalstaatliche Europa im Begriff war sich aufzulösen. Da das neue politische Phänomen in seiner Massivität nicht zu übersehen war, wurden zu seiner Erfassung eine Reihe von Verlegenheitsformeln geprägt. Es war die Rede von den neo-paganen Bewegungen, von neuen sozialen und politischen Mythen, oder von den mystiques politiques; auch ich habe mich in einer solchen Verlegenheitslösung versucht, als ich eine kleine Studie über die politischen Religionen schrieb. (Fs)

58b Die verworrene Lage der Wissenschaft und in deren Konsequenz die Unmöglichkeit, die politischen Ereignisse adäquat zu verstehen, dauerte bis in die nationalsozialistische Ära, ja bis in die Zeit des zweiten Weltkriegs; und für die breitere Öffentlichkeit dauert dieser unbefriedigende Zustand noch heute an - sonst wäre dieses Vorwort ja nicht nötig. Die Wissenschaftslage ist jedoch in einer Veränderung begriffen, deren Anfänge etwa zwei Generationen zurückreichen. Die säkular vorbereiteten Katastrophen, die über uns hereingebrochen sind, haben sie nicht aufgehalten, sondern beschleunigt; und angesichts der Breite der Veränderung und der schon vorliegenden Ergebnisse kann man heute sagen, daß wir an einer der großen Perioden westlicher Wissenschaftsentwicklung teilnehmen. Wenn die noch nicht ausgelebte Zersetzung nicht zu weiteren Katastrophen führt, die der freien Existenz der westlichen Gesellschaft ein Ende machen, werden künftige Historiker von dieser Blüte der Wissenschaft vielleicht die geistige und intellektuelle Regeneration Europas datieren. (58f; Fs)

59a Aber hier ist nicht der Ort, diese faszinierende Entwicklung in ihrem Zusammenhang und in ihren verzweigten Ergebnissen darzustellen. Nur ein kurzer Hinweis auf das neue Wissen um die Gnosis, die antike und die moderne politische, ist erlaubt. Die Erforschung der antiken Gnosis hat eine mehr als zweihundertjährige, komplizierte Geschichte. Über die innere Geschichte der Wissenschaft von der Gnosis informierten die historischen Überblicke in Wilhelm Bousset, Die Hauptprobleme der Gnosis (1907), und Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist (2. Aufl. 1954). Über die Probleme der Gnosis selbst unterrichten die beiden genannten Werke und Hans Leisegangs Werk Die Gnosis (1924; 4. Aufl. 1955) ... Als repräsentatives Werk zum Verständnis der deutschen Geschichte seit dem achtzehnten Jahrhundert sei Hans Urs von Balthasars Apokalypse der deutschen Seele (1937) genannt, dessen erster Band unter dem Titel Prometheus 1947 wiederaufgelegt wurde. Das Parallel werk für die französische Geschichte ist Albert Camus' L'Homme Révolté (1951). Die geistesgeschichtliche Konzeption, die meiner hier vorliegenden Vorlesung zugrunde liegt, ist ferner stark beeinflußt von Henri de Lubacs Drame de l'Humanisme Athée (2. Aufl. 1945). Für die Wiederherstellung des Kontinuums von der Antike durch das Mittelalter bis in die moderne politische Gnosis ist bedeutsam das Werk von Jakob Taubes, Abendländische Eschatologie (1947). Zum Verständnis des politischen Sektenwesens vom elften bis sechzehnten Jahrhundert ist unentbehrlich die umfassende Ausbreitung des Materials in Norman Cohns The Pursuit of the Millenium (1957). Schließlich seien meine eigenen Studien zur modernen politischen Gnosis, in der New Science of Politics (1952) genannt. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt