Autor: Hösle, Vittorio Buch: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie Titel: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie
Flanagan, Josef Stichwort: Letztbegründung, Methode, Beweise, Tautologie, Notwendigkeitsaussage Kurzinhalt: negativer, apagogischer Beweis; Mathematik; pragmatischer, performativer Widerspruch; reflexive Argumente Textausschnitt: 3.1.3. Zur Methode der Letztbegründung
266 Auffällig ist zunächst, daß der Beweis für die Notwendigkeit von Letztbegründung ein negativer Beweis ist. Auch wenn ein Denker vom Range Kants negative Beweise in der Philosophie, anders als in der Mathematik, für unzulässig hält (KdrV B 817 ff./A 789 ff), ist es leicht zu begreifen, daß Letztbegründung (die bei Kant nicht zufallig keine Rolle spielt) nicht auf einem direkten Beweis basieren kann. Denn dieser führt in der Tat in den infiniten Regreß; und wenn man den Abbruch des Beweisverfahrens in einer Form der Intuition vermeiden möchte, bleibt als Beweisform nur der indirekte Beweis übrig. Für die Notwendigkeit apagogischer Beweise in der Philosophie ist hiermit selbst ein apagogischer Beweis geführt; die Theorie ist somit selbstkonsistent. (Natürlich ist nicht ausgeschlossen, daß sich die Philosophie nach der reflexiv-apagogischen Begründung ihrer Prinzipien für ihre Konkretisierung des direkten Beweises bediene.) (159; Fs)
267 Klar ist allerdings, daß der apagogische Beweis in der Philosophie von demjenigen in der Mathematik spezifisch unterschieden ist. Denn in der Mathematik bleibt auch der negative Beweis erstens an die axiomatisch-deduktive Form gebunden, setzt also bestimmte im Rahmen der Theorie unbeweisbare Axiome voraus; und zweitens ist der Gegenstand des mathematischen Beweises - etwa Mengen, Zahlen, Punkte - von der Tätigkeit des Beweises unterschieden, während im Letztbegründungsbeweis Tätigkeit und Gegenstand, Subjekt und Objekt koindizieren: Der Beweis beweist in letztbegründeter Form, daß es letztbegründete Beweise gibt. (159; Fs)
268 Als apagogisch muß der Beweis der Notwendigkeitsaussage in der Unmöglichkeits- und der Kontingenzaussage Widersprüche erkennen - und zwar Widersprüche nicht zu anderen vorausgesetzten Sätzen (sonst wäre der Beweis ja hypothetisch), sondern in ihnen selbst. Da aber die Notwendigkeitsaussage keine Tautologie ist, kann der Widerspruch in jenen Aussagen nicht semantischer Natur sein - er muß pragmatischer (oder performativer) Natur sein.1 Der Widerspruch besteht also nicht zwischen zwei Satzteilen, etwa Subjekt und Prädikat, sondern zwischen dem, was der Satz als Satz, der ernst genommen werden will, immer schon präsupponiert, und dem, was er behauptet, zwischen dem, was er ist, und dem, was er sagt. (159f; Fs)
269 So ist die Aussage 'Letztbegründung ist unmöglich' eine Aussage, die ihrer Form nach, als Unmöglichkeitsaussage, beansprucht, letztbegründet zu sein; die Möglichkeit einer solchen letztbegründeten Erkenntnis wird aber von ihr in ihrer expliziten Aussage geleugnet. Ähnlich bestreitet die Aussage 'Nur unter Voraussetzungen gilt, daß nur unter Voraussetzungen gilt, daß nur unter Voraussetzungen gilt usw.', daß eine voraussetzungsunabhängige Aussage möglich ist; mit dem 'usw.' setzt sie aber voraus, daß es ein allgemeines Prinzip gibt, das den infiniten Regreß allgemeinverbindlich regelt. (Ohne ein solches Prinzip könnte der Satz gar nicht mitgeteilt werden, da es unendlicher Zeit bedürfte, um ihn zu fassen.) (160; Fs)
270 Natürlich kann jeder pragmatische Widerspruch in einen semantischen überführt werden, wenn man das in der Satzform Implizierte expliziert; aber man verfehlt die Pointe reflexiver Argumente, wenn man sie axiomatisiert und etwa sagt: Der Beweis setze eben voraus, daß z. B. Sätze Wahrheitsansprüche erheben, und diese Voraussetzung sei eine beliebige Hypothese (also keine notwendig wahre Voraussetzung). Denn auf diese Weise fällt man von der reflexiven Ebene auf die axiomatische zurück, deren Überschreitung gerade der Sinn des Letztbegründungsbeweises ist; indem man sich weigert, darauf zu reflektieren, daß der eigene Einwand Wahrheit und Letztbegründung immer schon voraussetzt, zeigt man, daß man den Sinn des Beweises nicht begriffen hat. Ebenso verfehlt man die Pointe, wenn man im Sinne des späten Husserl erklärt, es handle sich hier um eine Intuition; denn Intuitionen sind notwendig unvermittelt, während der Witz des Letztbegründungsbeweises in einer recht komplexen Argumentation besteht. Reflexive Argumente sind ein Drittes zu Deduktion und Intuition; und wer sie im Sinne der einen oder der anderen verkürzt, geht an ihrem Wesen vorbei. (160; Fs)
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