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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 5c; N.begriff v. Rousseau; Bourgeois (existence double): weder citoyen noch homme naturel; Schuld: Christentum; Contrat social (Abgesang) -> »éducation naturelle; Erziehung: Wiederherstellung d. totalen Selbstbezogenheit; Natur als Spätprodukt

Kurzinhalt: [Rousseau] beklagt das Zerbrechen der politischen Totalität und das partielle Wiederhervortreten der Natur... »sentiment de notre existence«. Also ein Ziel, das gerade nichts mit Teleologie zu tun hat, sondern im einfachen Selbstgenuß besteht...

Textausschnitt: 108a Man hat Rousseau so interpretiert, daß er die Naturferne der eigenen Zeit beklage. Das ist falsch. Er beklagt das Zerbrechen der politischen Totalität und das partielle Wiederhervortreten der Natur. Denn dies führt zu der »existence double«, durch die das eigene Zeitalter charakterisiert ist. Die »existence double« macht das Wesen jenes Typus aus, der weder »citoyen« noch »homme naturel« ist: des Bourgeois. Der Bourgeois ist definiert als der Mensch, »der in der bürgerlichen Ordnung den Primat der natürlichen Gefühle erhalten will«.20,21 Er ist das Ergebnis der Auflösung der politischen Totalität. (Fs; tblStw: Politik) (notabene)

109a Schuld an diesem Ende ist das Christentum. Durch seine Trennung des geistlichen vom politischen System, so heißt es im >Contrat social<, hat es die Einheit des Staates zerstört. Jede »gute Politie ist in christlichen Staaten unmöglich«. Rousseau bekennt sich hier ausdrücklich zur Sicht des Hobbes, ohne aber dessen Heilmittel, die erneute Einheit von Kirche und Staat, für möglich zu halten. Das Christentum ist seinem Wesen nach »natürliche Religion, Religion des Menschen, göttliches Naturrecht«22 und als solches unpolitisch, ja antisozial. Dennoch ist seine Macht unwiderstehlich, denn sie beruht auf seiner Wahrheit. Das Christentum zerbricht jenen wohltätigen Schein, auf den die antike politische Einheit gegründet war, denn diese war immer »gegründet auf Irrtum und Lüge«.23 (Fs) (notabene)

109b Was deshalb geschehen kann, ist nicht die Wiederherstellung der politischen Einheit, die auf Denaturierung gegründet war. Auch der >Contrat social< ist kein Zukunftsentwurf, sondern ein Abgesang. Was geschehen muß, ist die Vollendung der Emanzipation des »homme naturel« durch eine »éducation naturelle«, die der bourgeoisen Zwittererziehung entgegengesetzt ist. Was aber heißt nun in diesem Zusammenhang »natürlich«, »Natur«? Rousseau antwortet: Diejenige Erziehung sei natürlich, die sich zum Ziel das »Ziel der Natur« setze.24 Aber was ist das Ziel der Natur? Wir haben ja gesehen, daß es ein solches den Kulturprozeß umgreifendes Ziel der Natur für Rousseau nicht gibt. Im »état naturel« bedarf es gar keiner Erziehung. Émile jedoch wird in allen Errungenschaften der Kultur seiner Zeit unterrichtet. Inwiefern kann da von einer natürlichen Erziehung die Rede sein? Darum, weil in ihr die totale Selbstbezogenheit des natürlichen Subjekts wiederhergestellt wird. Émile wird erzogen »einzig für sich selbst«.25 Und zwar wird durch das höchst künstliche Arrangement einer totalen Erziehungswelt Vorsorge getroffen, daß der Bruch der Natürlichkeit, der für die Menschheitsgeschichte charakteristisch ist, umgangen wird. (Fs) (notabene)

110a Die Natürlichkeit aber, die aus der Emanzipation und aus der »éducation naturelle« hervorgeht, ist in höherem Maße natürlich zu nennen als die des »homme naturel«. Der »état naturel« war ja nur dadurch möglich, daß die natürlichen Anlagen des Menschen gerade nicht zur Entfaltung kamen. Denn die Entfaltung war nur durch Sozialisierung und diese nur durch Denaturierung möglich. Nun aber ist der voll entfaltete Mensch das Ziel. Geben wir diesem die vorgeschichtliche Autarkie zurück, so ist er erst der wahre »homme naturel«. Denn in ihm wird das Ziel der Natur auf höhere Weise erreicht als beim anfänglichen »homme naturel«, jenes Ziel der Natur, das Rousseau bezeichnet als »sentiment de notre existence«.26 Also ein Ziel, das gerade nichts mit Teleologie zu tun hat, sondern im einfachen Selbstgenuß besteht, in der totalen fühlenden Rückbeziehung eines lebendigen Wesens auf sich selbst. Dieses »sentiment de l'existence« wird erst in der Kulturwelt durch die »éducation naturelle« zur höchsten Intensität gesteigert. Die höchste Intensität aber ist das Gewissen. Das Gewissen tritt als höhere Form der Selbstbezogenheit an die Stelle der ekstatischen und unnatürlichen Leidenschaft des Patriotismus, die das Handeln des »citoyen« motiviert. Im Gewissen kehrt der Mensch zu sich zurück, er wird wieder natürlich. Eine solche »éducation naturelle«, eine Erziehung, die die natürlichen Anlagen des Menschen entfaltet und auf das »sentiment de l'existence« zurückbezieht, ist überhaupt erst im »état civil« angebracht und möglich. Diesen Gedanken spricht Wolmar in der Nouvelle Héloïse< aus.27 Natur in diesem vollen Sinne ist ein Spätprodukt. Erst die bürgerliche Gesellschaft setzt sie als Subjektivität frei. Und es wird, wie Leo Strauss einmal bemerkt hat, in den Augen Rousseaus die höchste Rechtfertigung dieser Gesellschaft, daß sie es einem bestimmten Typ von Individuen erlaubt, das höchste Glücksgefühl durch den Rückzug aus ihr, der Gesellschaft, das heißt durch ein Leben an ihrem Rande zu genießen.28 (Fs) (notabene)

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