Autor: Spaemann, Robert Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger Stichwort: Natur 5b; N.begrifff von Rousseau; Spontaneität - Reflexion (Widerspruch: Fenelon); Frage nach d. Heraustreten aus d. N. (Zweideutigkeit); Freiheit - Perfektibilität (kein Telos, nur Disposition) - potentia oboedientialis; Augustinus: zurückgekrümmte N. Kurzinhalt: Das Heraustreten aus dem Naturzustand löst den Menschen aus der einzigen Daseinsweise, die ihm einen festen Stand im Universum gibt... Unmittelbar wirksam ist jedoch die protestantische Deutung des Paradieszustandes als eines Naturzustandes. Textausschnitt: 102a Gesucht werden dabei die »Prinzipien, die der Vernunft vorausliegen«. Rousseau hat das Problem allerdings umgangen, das schon Fénelon klar vor Augen hatte, wie nämlich die Reflexion imstande sein soll, eine Spontaneität zu entdecken, die durch eben diese Reflexion gerade aufgehoben wird. Er selbst schreibt ja: »Der Zustand der Reflexion ist ein widernatürlicher Zustand.«9 Die These von der Güte des »homme naturel« ist die These von der Reinheit der Spontaneität. »Seine erste Regung ist immer gut«, sagt Rousseau von Voltaire in einem Gespräch mit Bernardin de Saint Pierre, »die Reflexion erst ist es, die ihn bösartig macht.«10 Der »status naturae purae« ist nach Rousseau der der vollkommenen Selbstgenügsamkeit des einsamen Indiviuums. Er drängt deshalb von sich selbst her nicht über sich hinaus. Die Frage ist, woher es dann überhaupt zu einem Heraustreten aus der Natur kommt, und zwar einem so radikalen, daß die Natur zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Rousseau gibt die Antwort mit der Statuierung einer spezifischen Eigenart des natürlichen Menschen: der Freiheit als einer gewissen Unabhängigkeit vom Instinkt und der daraus folgenden Perfektibilität. Der Terminus scheint etwas Teleologisches zu beinhalten, aber Rousseau weist dies ausdrücklich ab. Die Perfektibilität ist keine Entelechie, die nach Verwirklichung eines Telos drängt, sondern eine bloß passive Disposition zur Entwicklung sozialer Eigenschaften. Eine Möglichkeit, die nur durch ein »zufälliges Zusammentreffen verschiedener äußerer Gründe«11 realisiert werden kann, also genau entsprechend der »potentia oboedientialis« der Spätscholastiker und des Suarez, die ja ebenfalls jedes positive »desiderium naturale« nach einer mehr als natürlichen Verfassung geleugnet hatten. Was den Naturzustand charakterisiert, ist kurz gesagt die totale Selbstbezüglichkeit des Individuums. »Die Natur ist stets auf sich selbst zurückgekrümmt«,12 dieses aus der augustinischen Tradition stammende Axiom findet in allen neuzeitlichen Naturtheorien seine Ausführung. So heißt es im >Émile<:
Der natürliche Mensch ist alles für sich; er ist numerische Einheit, absolutes Ganzes; er hat nur zu sich selbst und zu seinesgleichen Beziehung.13
104a Das Heraustreten aus dem Naturzustand löst den Menschen aus der einzigen Daseinsweise, die ihm einen festen Stand im Universum gibt. Es bleibt in seinem Sinn, seiner Rechtfertigung immer zweideutig. Die Stimme, die den Menschen aus dem »état naturel« ruft, ist die Stimme Gottes und des Bösen in einem. Seit Rousseau werden in der säkularen Deutung der Paradiesgeschichte die Berufung des Menschen in eine übernatürliche Ordnung und der Sündenfall in eins gesehen. Das Wort Augustins von der »felix culpa« und dem »quasi necessarium Adae peccatum« geht hier vorauf. Es war dem Zeitalter auch wohl durch das Zitat in Leibniz' Theodizee geläufig. Unmittelbar wirksam ist jedoch die protestantische Deutung des Paradieszustandes als eines Naturzustandes. Der Begriff des »supernaturale« hat für Luther ebenso wie für die Jansenisten erst einen Sinn für die Erlösungsgnade. Die Zweideutigkeit des Heraustretens aus dem Naturstand wird bei Rousseau deutlich, wo er auf den Einwand jener antwortet, die ihm die Predigt eines »retour à la nature« unterstellen:
O ihr, die ihr die göttliche Stimme niemals vernommen habt und die ihr nur als einzige Bestimmung eures Geschlechts erkennt, das kurze Leben in Frieden dahinzubringen; die ihr alles Schädliche, das ihr euch zugezogen habt, eure unruhigen Gemüter, eure verkehrten Herzen, eure ungebundenen Begierden in den Städten zurücklassen könnt, nehmt eure alte und erste Unschuld wieder an, es liegt nur an euch: Sucht die Wälder auf, um dort die Laster eurer Zeitgenossen aus den Augen und aus dem Andenken zu verlieren, fürchtet euch nicht, das menschliche Geschlecht zu entehren, wenn ihr seinen Einsichten entsagt, um zugleich seinen Lastern zu entsagen. Was aber die Menschen meinesgleichen betrifft, deren Leidenschaften schon auf ewig ihre ursprüngliche Einfalt unterdrückt haben, die nicht mehr von Kräutern und Eicheln leben und die weder Gesetze noch Oberherren entbehren können, jene, deren erste Väter mit übernatürlichen Lehren beehrt worden sind, jene, welche in der Absicht, den menschlichen Handlungen sogleich eine Sittlichkeit zu verschaffen, die sie sonst in sehr langer Zeit nicht hätten erlangen können, welche in dieser Absicht, sage ich, den Grund finden, warum ein Gebot gegeben wurde, das an sich gleichgültig und in keinem anderen System zu erklären ist, mit einem Worte, jene, welche überzeugt sind, daß die göttliche Stimme das ganze menschliche Geschlecht zu den Einsichten und zu der Glückseligkeit der himmlischen Geister gerufen hat, sie alle, sage ich, werden sich durch die Ausübung solcher Tugenden, zu welchen sie sich verpflichten, indem sie sie lehren, um den ewigen Preis bemühen, den sie dafür zu erwarten haben. Sie werden die heiligen Bande der Gesellschaft, deren Mitglieder sie sind, hochschätzen, sie werden ihren Nächsten lieben und ihm, soviel in ihrer Macht steht, dienen, sie werden die Gesetze gewissenhaft beobachten, und denjenigen, die sie gegeben haben und die sie verwalten, Gehorsam leisten..., aber sie werden dessenungeachtet eine Verfassung verachten, die nicht anders erhalten werden kann als vermittels so vieler ehrwürdiger Leute, die man öfter wünscht, als man sie findet, und aus welcher trotz aller Vorsorge immer noch mehr wirkliche Drangsale als scheinbare Vorteile entspringen.14
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