Autor: Spaemann, Robert Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger Stichwort: Natur 4; Folgen d. theolog. N. als Funktion d. Geschichte; N. als Substanz ohne Relation (Deus sive natura); konfessionelle Ggs. in Naturtheorien (natura pura - Hobbes; Rousseau als Übergang) Kurzinhalt: 1. Durch die Einfügung der Natur in einen heilsökonomischen Zusammenhang wird der Naturbegriff selbst zu einem Moment der Geschichtstheorie... 2. Der Naturbegriff wird durch den Gegensatz zum Übernatürlichen so ausgeweitet, daß ... Textausschnitt: 98a Ich kann nun an dieser Stelle die Konsequenzen der beiden Konzeptionen für den Naturbegriff und die Geschichtstheorie der Neuzeit nur andeuten. Zweierlei ist zunächst wichtig. (Fs)
1. Durch die Einfügung der Natur in einen heilsökonomischen Zusammenhang wird der Naturbegriff selbst zu einem Moment der Geschichtstheorie. War für die Antike das, was meistens geschieht, Kriterium für das, was als natürlich angesehen werden muß, so ist nun, was meistens geschieht, möglicherweise Folge eines Zustandes, der bereits aus einer Entfernung von der Natur resultiert. Was Natur dann heißt, muß also erst mit Hilfe irgendeiner Methode erschlossen werden; es zeigt sich nicht für die Empirie. (Fs) (notabene)
2. Der Naturbegriff wird durch den Gegensatz zum Übernatürlichen so ausgeweitet, daß er dort, wo die Idee des Übernatürlichen dem kritischen Verdikt der Aufklärung verfällt, zum Begriff für die Totalität des Seins wird, da er nun überhaupt kein Gegenüber mehr hat. Natur wird zur Substanz, die ohne Bezug auf einen anderen Begriff gedacht werden kann: Deus sive natura. »Je suis le grand tout«, sagt die Natur bei Voltaire. Aber eben damit fällt das Spezifische des Begriffs weg: »Je suis tout art«,1 heißt es bei Voltaire weiter, und der Begriff wird zweideutig, in sich selbst dialektisch, wie es mit jedem spekulativen Begriff geschieht, der den Bezug aufsein Gegenüber verliert. (Fs) (notabene)
99a Zu untersuchen wäre, wieweit sich die konfessionellen Gegensätze in der Fassung des Naturbegriffs innerhalb der philosophischen Naturtheorien durchhalten. Mir scheint dies erkennbar zu sein. Die aufklärerische Durchführung eines geschlossenen Systems der »natura pura« geschieht im katholischen Frankreich. Die geschichtsphilosophischen Varianten der Sündenfalltheorie, die Vorstellung vom notwendigen Verlassen des Zustandes einer radikal bösen oder aber böse gewordenen Natur finden sich im protestantischen Idealismus, aber zuvor schon bei Thomas Hobbes mit seinem kategorischen Postulat: »Wir glauben, ... daß man aus dem Naturzustand herausgehen muß.«2 Zwischen beiden steht Rousseau. Er, der zweimalige Konvertit, bildet den Übergang von der einen Konzeption zur anderen. Er hat den Naturbegriff der Aufklärung radikal zu Ende gedacht und eben deshalb das »système de la nature« verlassen. An ihm möchte ich die Konsequenzen der skizzierten Voraussetzungen verdeutlichen. (Fs)
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