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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 12; Daseinsrelativität: nicht relativistisch; Wirklichkeit: polare Struktur (Gestalt - Wahrnehmung, Zahlen - Gedachtwerden; Werte - Fühlen); Reduktionismus; Liebe, Person: Beziehung - Selbstsein; Kunst (Verlust d. Wirklichkeit)

Kurzinhalt: Was es gibt, sind ... Farben und deren Wahrnehmung, Zahlen und deren Gedachtwerden, Werte und deren Gefühltwerden. Beide Seiten aber haben ihre Wirklichkeit jeweils nur in dieser Beziehung aufeinander... Aber der Preis für diesen Reduktionismus ist ...

Textausschnitt: IX. Das Eigentümliche des Menschen

33a Es wäre nun ganz falsch, diese Daseinsrelativität relativistisch zu interpretieren, also so, als ob Gestalten etwas, wie man sagt, „nur Subjektives" seien, etwas von Wahrnehmenden Konstruiertes. Was es gibt, sind Gestalten und deren Wahrnehmung, Farben und deren Wahrnehmung, Zahlen und deren Gedachtwerden, Werte und deren Gefühltwerden. Beide Seiten aber haben ihre Wirklichkeit jeweils nur in dieser Beziehung aufeinander. Es hat deshalb ebenso wenig Sinn zu sagen, die Gesetze der Mathematik und der Logik seien Produkte der menschlichen Psyche, wie es Sinn hat zu sagen, diese Gesetze würden auch dann existieren, wenn es überhaupt kein Denken gäbe. Wirklich ist jeweils das Ganze dieser polaren Struktur. Wirklich sind Farben und Töne, weil Sehen und Hören wirklich sind, aber Sehen und Hören sind nur wirklich, weil Farben und Töne wirklich sind. Wirklich ist jedes noch so ephemere Ereignis der oikeiosis, der Aneignung eines objektiven Gehaltes durch einen subjektiven Pol. (Fs) (notabene)

33b Das verkennt der Reduktionismus. Er reduziert die eine Seite der polaren Struktur auf die andere. Er ist monistisch. So glaubt er zum Beispiel, eine evolutionstheoretische Erklärung könne uns sagen, was Bewußtsein und Erkenntnis sind. Aber solche Erklärungen sind immer zirkulär. Sie setzen Gestalten voraus, zum Beispiel die des tierischen und des menschlichen Gehirns, sie setzen Kausalität voraus. Mutation und Selektion sind ja kausale Prozesse. Und dann nehmen sie diese Kategorien in Anspruch, um mit ihrer Hilfe Gestaltwahrnehmung und das Entstehen der Kategorie der Kausalität zu erklären. Das heißt, sie können das Entstehen der Kategorie gar nicht erklären, ohne diese Kategorien bereits in Anspruch zu nehmen. Aus der Wirklichkeit einer Beziehungsstruktur von Gestalt, von Bild und Wahrnehmung wird ein reduktionistisches Verfahren, in dem die eine Seite dieser Beziehung zum Epiphänomen und die andere allein als wirklich erklärt wird. Aber der Preis für diesen Reduktionismus ist die Zirkularität, die stillschweigende, unbewußte Voraussetzung dessen, was man beweisen wollte. Butlers Satz „Everything is what it is, and not another thing" kann nur befolgt werden, wenn als das eigentlich Wirkliche die Beziehung verstanden wird. Im Begriff der Person aber kommt dieser Gedanke erst zur Vollendung, weil in der gegenseitigen Anerkennung und in der Liebe von Personen die Beziehung von der Art ist, daß sie das in dieser Beziehung Stehende als jemanden, und das heißt als Selbstsein jenseits aller Beziehung konstituiert. (Fs; tblStw: xy) (notabene)

34a Die Glieder dieser Beziehung sind relativ aufeinander. Aber die Beziehung selbst ist das Wirkliche. Und sie als das Wirkliche, also Wirklichkeit als Wirklichkeit auffassen zu können, ist das Eigentümliche des Menschen. Es ist die höchste Form von geistiger Aktivität, Selbsttranszendenz. Es ist ein ganz falscher Gedanke, etwas werde um so adäquater erkannt, je passiver der Erkennende sich verhält. Wir wissen das doch aus dem gegenseitigen Verhältnis von Menschen. Ich kann nicht hoffen, dem Wesen eines anderen Menschen näherzukommen, wenn ich von mir selbst nichts investiere. Ich bleibe dann ganz an der Oberfläche. Wenn ich aber etwas investiere, wenn ich mich selbst in diese Beziehung einlasse, dann trägt die Erkenntnis natürlich die Spuren des Erkennenden, sie ist eine sehr persönliche. Aber anders ist Erkenntnis von Wirklichkeit nicht zu haben. (Fs)

34b Ich möchte schließen mit einem Ausblick auf die bildende Kunst und ihre Rolle in einer Epoche sich zurückziehender Wirklichkeit. Jahrhunderte lang, wenigstens seit dem 17. Jahrhundert, war die europäische Kunst Illusionskunst. Entscheidend war die Einführung der Zentralperspektive in der Malerei. Das gleiche gilt auch für die Architektur und die Bildhauerei. Die Säulen unserer Barockkirchen sind in der Regel nicht aus Marmor, sondern sie sollen so aussehen, als wären sie aus Marmor. Und die Skulpturen, die so lebendig wirken, sind oft hohl und haben keine Rückseite. Die Kunst war es, die den Weg zur Virtualisierung der Realität gebahnt hat. Aber die Kunst ist es nun auch, die als erste auf diesem Weg Verlorene, die Wirklichkeit zu erinnern beginnt. In einer immer virtueller werdenden Welt übernimmt sie es, die Kostbarkeit des Seins darzustellen. Was bedeutet es, wenn in der Zeit der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, wo das Original von der Simulation immer weniger unterscheidbar ist, die Authentizität des Originals eine geradezu magische Bedeutung gewinnt, eine Bedeutung, die nur mit der der „Gültigkeit" von Sakramenten vergleichbar ist? Diese Gültigkeit beruht ja auf der sinnlichen Realität einer Berührung, die auf der lückenlosen Folge von Handauflegen bis hin zum Stifter beruht. Die Authentizität des Kunstwerks beruht auf der originalen Berührung dieses Stückes Leinwand durch diesen Künstler. Bei der zu einem Osterhasen umgeschmolzenen Kaiserkrone von Beuys hängt alles daran, daß sich diese Geschichte wirklich zugetragen hat. Denn ansehen kann man sie dem Hasen nicht. In einer immer mehr den Schein kultivierenden Welt übernimmt die Kunst in Umkehrung des traditionellen Verhältnisses die Rolle der Repräsentation der Wirklichkeit, des Seins, das sich in die Unsichtbarkeit zurückgezogen hat. (Fs; tblStw: Reduktionismus)

35a Beim verchromten Stab von ca. 1000 m Länge, den Walter de Maria anläßlich einer Kasseler Documenta in die Erde versenkt hat, sieht man die Schnittfläche des Stabes, eine kleine silberne Scheibe auf dem Boden. Das andere sieht man nicht, wie in dem Claudius-Gedicht: „Seht ihr den Mond dort stehen? -/ Er ist nur halb zu sehen/ und ist doch rund und schön./ So sind wohl manche Sachen,/ die wir getrost belachen,/ weil unsere Augen sie nicht sehn". Nicht was man sieht, ist das Wesentliche, sondern worauf es ankommt, ist, von der Wirklichkeit des versenkten Stabes zu wissen, die durch diese kleine Scheibe repräsentiert wird. Worauf es ankommt, ist, die Aktivität des Betrachters, der sich das, was er nicht sieht, ausdrücklich zu Bewußtsein bringt. Auch hier übernimmt die Kunst eine quasi sakramentale Funktion. Und es ist die große Frage, ob die Kunst sich damit nicht übernimmt und nicht auf einer Fährte ist, die nicht ihre eigene ist, weil ihr eigentliches Wesen das Sichtbarmachen ist. Aber um nachzuvollziehen, was sich hier vollzieht, ist es sinnvoll, diese Beispiele ins Auge zu fassen, weil sie wirklich das imitieren, was das Sakrament tatsächlich tut. Die Kunst macht etwas unsichtbar, damit es als wirklich erinnert wird. In einer virtuellen Welt, einer Fassadenwelt, übernimmt sie es, die verlorene Wirklichkeit als unsichtbare zu vergegenwärtigen. Denn nur als unsichtbare ist die Wirklichkeit unzerstörbar. (Fs) (notabene)

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