Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.) Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.) Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann Stichwort: Anthropomorphismus 8; Verschwinden der Person; Nietzsche: Identität als A.; Hume (Selbstsein - Empirismus, Euthanasie); Komplex v. Zuständen (R. Rorty) - jemand, der Z. hat; Platon: Analyse d. Dekadenz; Hedonismus - Verlust d. Wirklichkeit Kurzinhalt: Der Mensch wird sich selbst zum Anthropomorphismus. Er ist das letzte Ding, das sich auflöst. Aber damit verschwindet auch der Anthropozentrismus ... Der Gedanke der Wirklichkeit verschwindet... kein Zufall, daß die Befürworter des Selbstmords, des ... Textausschnitt: V. Das Verschwinden der Person
26a Und dasselbe gilt schließlich für das Bewegte. Bewegt sind Körper, Dinge als mit sich über eine gewisse Zeit hin identische Einheiten, von denen man sagen kann, daß sie sich zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten oder in verschiedenen Zuständen befinden. Nietzsche war wohl der erste, der darauf hinwies, daß auch die Idee solcher Einheiten, also die Idee von Dingen, ein Anthropomorphismus ist. Wir sind es, die sich als Einheiten erleben, als Einheiten, die über die Zeit hinweg ihre Identität bewahren. Wir erleben uns als Subjekte des Wollens und Handelns, die für ihre Handlungen Verantwortung tragen. Kinder schlagen den Tisch, wenn sie sich an ihm gestoßen haben. Aber wir tun dies in gewisser Weise alle, solange wir überhaupt von Dingen reden. Der Gedanke des Seins von Etwas ist unzertrennlich von dem Gedanken der Identität dessen, was ist. Und genau dieser Gedanke ist, wie Nietzsche meinte, ein fundamentaler Anthropomorphismus. (Fs) (notabene)
26b Wenn wir ihn allerdings einmal mit Bezug auf die Dinge verabschiedet haben, dann müssen wir ihn schließlich auch mit Bezug auf uns selbst verabschieden. Der Abschied vom Anthropomorphismus ist am Ende ein Abschied vom Menschen selbst, das heißt von der menschlichen Betrachtung des Menschen. Der Mensch wird sich selbst zum Anthropomorphismus. Er ist das letzte Ding, das sich auflöst. Aber damit verschwindet auch der Anthropozentrismus, der der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik zugrunde liegt. Das Resultat ist eine subjektlose, gleichgültige Welt von Gegenständen, die niemandes Gegenstände mehr sind. Der Gedanke der Wirklichkeit verschwindet. Nietzsche hat Humes Überzeugung zur Vollendung gebracht: „We never do one step beyond ourselves." Nur zeigt sich, daß der Gedanke des Selbst seinerseits schon einen Schritt über das Selbst hinaus voraussetzt, also Selbsttranszendenz. Das hat übrigens Hume auch schon gesehen. Er erklärt offen, daß er sich nicht zu den Menschen rechnen könne, die sich eines Ich erfreuen. Und zwar deshalb nicht, weil Selbstsein kein Zustand, keine empirische Eigenschaft, sondern dasjenige ist, oder besser derjenige bzw. diejenige, die sich in bestimmten empirischen Zuständen befinden. Für den Empirismus gibt es aber nur diese Zustände. Es ist deshalb auch kein Zufall, daß die Befürworter des Selbstmords, des assistierten Selbstmords und der Euthanasie in der Regel aus dem Bereich des Empirismus kommen. Für sie gibt es nur Zustände, wünschenswerte und nicht wünschenswerte. Die nicht wünschenswerten, also Zustände des Leidens, sind zu beseitigen, und wenn das nicht anders möglich ist, dann durch die Beseitigung dessen, der leidet. Denn der Leidende hat nicht eigentlich eine Wirklichkeit, ein Sein, das etwas anderes wäre als die Gesamtheit der Zustände, in denen er sich befindet. Er ist nicht eigentlich jemand, der leidet, sondern er ist Leiden, das dahin tendiert, nicht zu sein. Und der Zustandskomplex tendiert kategorisch dahin, wenn das Leiden nicht aufgewogen wird durch Annehmlichkeiten. In diesem Fall ist es sinnvoll, den ganzen Zustandskomplex zu beseitigen. (Fs) (notabene)
27a Täuschen wir uns nicht. Die Konsequenzen dieser Auffassung mögen noch auf instinktive Abwehrreaktionen stoßen. Die Auffassung selbst findet inzwischen breite Akzeptanz. Was Heidegger „Seinsvergessenheit" nannte, ist so allgemein geworden, daß der pejorative Ausdruck kaum mehr verstanden wird. Aber wer sich selber nicht wirklich ist, dem ist nichts wirklich. Es gibt für ihn nur Zustände, nicht jemanden, dem diese Zustände angehören. Dem entspricht eine Gesellschaft, wie sie der amerikanische Neopragmatist Richard Rorty propagiert, eine Gesellschaft, in der „nichts wichtiger ist als Lust und Schmerz". (Fs)
Kommentar (11.09.2015) zu oben: Cf. Bauman, Sicherheit.odt, Kapitel: Utopia im Zeitalter der Ungewissheit
27b Tatsächlich sind Lust und Schmerz Erscheinungsweisen dessen, was die Alten Güter nannten, Erscheinungsweisen der Wirklichkeit des Lebens, das sich verwirklicht und steigert oder das bedroht und gefährdet ist. In diesen Erscheinungsweisen erlebt sich Leben. Platon hat ausführlich die Dekadenz einer Zivilisation analysiert, in der diese Erscheinungsweisen von dem abgekoppelt werden, was in ihnen zur Erscheinung kommt, also einer Erlebnisgesellschaft, in der es nur noch um die Herstellung von Erlebnissen geht und nicht um das, was erlebt wird, nicht um Wirklichkeit. Eine solche Zivilisation tendiert zur Selbstzerstörung. Sie bringt nämlich die Person zum Verschwinden und läßt nur abstrakte Erlebnissubjekte übrig, Subjekte ohne zeitliche Dimension, ohne biographische Identität. Der konsequente Hedonismus hebt sich, das hat Platon schon gewußt, selbst auf. Er kann so etwas wie dauerhaftes Wohlbefinden nicht sichern. Denn was will der Hedonist hören auf die Frage, ob ihm dieses oder jenes Vergnügen für die Zukunft schädlich sein wird oder nicht, also auf die Frage, was seinem langfristigen Wohlbefinden zuträglich oder abträglich ist? Will er eine wahre Antwort oder eine angenehme Antwort? (Fs) (notabene)
27c Angenehme Zustände partizipieren an der Wirklichkeit dessen, dessen Zustände sie sind. Sie sind ihrerseits wirklich, und insofern können Aussagen oder Annahmen über sie wahr oder falsch sein, sie können aber auch angenehm oder unangenehm sein. Wer das langfristig Angenehme wählt, muß seinem gegenwärtigen Luststreben Grenzen setzen. Epikur war ein Lehrer der Askese; der konsequente Hedonist aber verzichtet auf seine Identität mit dem, der er zukünftig sein wird. Er verzichtet auf seine Wirklichkeit als Person. Er will nichts sein, als sein gegenwärtiger angenehmer Zustand. Wir kennen das von Drogensüchtigen. (Fs) (notabene) ____________________________
|