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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 7; A. - Anthropozentrismus (Hobbes); anthropomorpher Blickpunkt für außermenschliches Leben (auch unbelebte Materie: nicht bloß Objekt, sondern Mitsein); Teleologie (Buridan, Russel); Bewegung: Zukunft vs. Infinitesimalrechnung

Kurzinhalt: Die Wirklichkeit als sie selbst verstehen wollen, heißt, sie unter dem Aspekt größerer oder geringerer Ähnlichkeit mit uns zu betrachten... Einen Körper zu einem Zeitpunkt t1 bewegt nennen, heißt, zu diesem Zeitpunkt bereits den Aufenthalt dieses ...

Textausschnitt: IV. Anthropomorphismus und Anthropozentrismus

22b Der bekannte Einwand lautet, man dürfe außermenschliches Leben nicht anthropomorph betrachten. Meine Antwort darauf lautet: Wir müssen es anthropomorph betrachten, wenn wir ihm gerecht werden wollen. Nur im Ausgang von bewußtem Leben, das wir selbst sind, können wir adäquat sprechen von nichtbewußtem Leben, von außermenschlichem Leben. Wir haben zu diesem Leben keinen direkten Zugang. Wir können es nur wie bewußtes Leben abzüglich des Bewußtseins betrachten. Descartes meinte: Abzüglich des Bewußtseins ist Leben nichts. Die Cartesianer quälten Tiere und hielten deren Schmerzäußerungen für mechanische Reaktionen. Aber das entspricht nicht unserer Erfahrung. Wenn wir uns dessen bewußt werden, daß wir in heiterer Stimmung sind, daß wir Hunger oder leichte Kopfschmerzen haben, erleben wir diese Stimmung, diesen Hunger oder diese Kopfschmerzen als etwas, das wir schon hatten, ehe es uns zu Bewußtsein kam. Gefragt, was denn der Hunger war, ehe er uns bewußt wurde, können wir natürlich nicht antworten. Denn nur der bewußte Hunger ist uns bewußt. Und doch ist es Teil dieses Bewußtseins, daß der Hunger schon vorher da war und daß er durch das Bewußtwerden erst in ein neues Stadium eintritt. Vorher war er etwas Ähnliches wie der bewußte Hunger, also der bewußte Hunger abzüglich des Bewußtseins. Das kann ich nur negativ ausdrücken, aber ich kann dafür keine positive Formulierung finden. Und so ist es richtig und die einzige Möglichkeit, über wirkliches, nicht menschliches, nicht bewußtes Leben anthropomorph zu sprechen und sich dieses Anthropomorphismus zugleich bewußt zu sein. (Fs)

23a Die Alternative zu dem so geschmähten Anthropomorphismus in der Biologie ist der Anthropozentrismus. Die moderne Welt ist wie keine zuvor anthropozentrisch. Auch das neue Umweltbewußtsein ändert nichts daran. Im Gegenteil: Indem alles außermenschliche Seiende als Umwelt definiert wird, wird es radikal auf den Menschen bezogen. Artenschutz hat mit Umweltbewußtsein etwas zu tun, weil die natürlichen Arten zum Reichtum unserer Welt gehören. Tierschutz hat damit im Grunde nichts zu tun, weil es in ihm um die Tiere selbst geht. Die moderne Wissenschaft ist anthropozentrisch. Sie fragt nicht nach dem, was wirklich ist und was deshalb den Charakter des Mitseins mit uns hat, sondern sie fragt danach, wie es uns als Objekt erscheint und wie es von uns manipulierbar ist. Eine Sache erkennen heißt, so schrieb schon einer der Väter des anthropozentrischen Denkens der neuzeitlichen Wissenschaft, Thomas Hobbes, „to know what we can do with it when we have it". Um zu wissen, was ich mit einer Sache machen kann, muß ich nicht wissen, was sie wirklich als sie selbst ist. Ich kann deshalb auf den Anthropomorphismus zugunsten der Anthropozentrik verzichten. Die Dinge, insofern sie pure Objekte sind, stehen dem Subjekt gegenüber, sie haben nichts mit ihm gemeinsam. Die Wirklichkeit als sie selbst verstehen wollen, heißt, sie unter dem Aspekt größerer oder geringerer Ähnlichkeit mit uns zu betrachten. Die objektivierende Wissenschaft kennt am besten das uns Entfernteste, das Verhalten der einfachsten Elemente der unbelebten Materie. Und sie versucht, das uns Nächste und uns selbst als komplexe Kombination aus diesen Elementen zu verstehen. Je komplexer, desto schwieriger ist dieses Verstehen. Wie aus einer solchen Kombination sich ein Streichquartett von Beethoven oder die Formeln der Relativitätstheorie ergeben haben sollen, liegt noch in undurchdringlichem Dunkel. Wenn wir nicht objektive Bestände aufnehmen, sondern Wirklichkeit verstehen wollen, liegt die Sache genau umgekehrt: Wir verstehen das Streichquartett oder die Relativitätstheorie besser, als wie es ist, ein Bakterium zu sein, falls es überhaupt irgendwie ist. Wenn nicht, dann können wir hier gar nichts mehr verstehen, sondern nur noch objektive Daten registrieren. (Fs) (notabene)

24a Denn auch für die uns ferne, unbelebte materielle Welt gilt: Sie als wirklich betrachten, ihr so etwas wie Selbstsein zuerkennen heißt, sie unter dem Aspekt der Ähnlichkeit mit uns, also anthropomorph betrachten, nicht als Objekt, sondern als Mitsein. Der Versuch, darauf zu verzichten, hat eine lange Geschichte. Sie beginnt mit dem programmatischen Verzicht auf jede Teleologie in der Naturbetrachtung, also auf jeden Gedanken einer Zielgerichtetheit natürlicher Prozesse. Bacon erklärte, solche Betrachtungen seien unfruchtbar wie gottgeweihte Jungfrauen. Die Zeit, in der man gottgeweihte Jungfrauen schätzte, war für Bacon vorbei. Zielgerichtetheit setzt, so heißt es von Johannes Buridan bis zu Wolfgang Stegmüller, Bewußtsein voraus. Unbewußte Tendenzen soll es nicht geben können. Was übrig blieb, war ungerichtete Kausalität, Wirkursächlichkeit. Aber auch diese enthüllte sich als Anthropomorphismus, wie schon der späte Kant sah. Was eine Ursache ist, wissen wir nämlich primär nur aus der Erfahrung unseres eigenen Handelns. Daß eine Sache aus der anderen folgt, daß A die Ursache von B ist, das erleben wir, wenn wir selbst unseren Arm bewegen, und die Kugel rollt. Bertrand Russell forderte deshalb, auch den Begriff der Ursache fallen zu lassen. Auch der sei ein Anthropomorphismus. Was es gibt, seien Bewegungsgesetze der Natur, die sich in mathematischer Sprache ausdrücken lassen. (Fs)

24b Aber was ist Bewegung? „Die Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen", so sagt Aristoteles, oder auch „die Wirklichkeit des Könnens". Was Können heißt, wissen wir wiederum nur aus unserer Selbsterfahrung. Dasselbe gilt für den Begriff der Möglichkeit. Es gibt die Theorie der Megariker, die zuletzt von Nicolai Hartmann vertreten wurde, daß nur das Wirkliche möglich ist, weil nur dasjenige möglich ist, zu dessen Verwirklichung alle Bedingungen erfüllt sind, und wenn sie erfüllt sind, ist die Sache wirklich. Wenn wir etwas möglich nennen, was nicht wirklich ist, so haben wir es schon wieder mit einem Anthropomorphismus zu tun. Frei handelnd nennen wir den, der auf eine bestimmte Weise handelt, während es ihm möglich gewesen wäre, auch anders zu handeln. Wir können von Freiheit nur sprechen unter Verwendung des Begriffs der Möglichkeit. (Fs)

25a Und was nun die Bewegung betrifft: Einen Körper zu einem Zeitpunkt t1 bewegt nennen, heißt, zu diesem Zeitpunkt bereits den Aufenthalt dieses Körpers an einem anderen Punkt zu einem künftigen Zeitpunkt t2 antizipieren und dem Körper selbst diese Antizipation zuschreiben. Sonst können wir nicht sagen, was den bewegten Körper in einem bestimmten Augenblick vom unbewegten unterscheidet. Wir können es nur beschreiben, wenn wir eine Beschreibung des künftigen Status in die Definition des gegenwärtigen hineinnehmen und ihn dadurch als Bewegung charakterisieren. Es gibt keine instantane Bewegung. Das aber heißt: Wir sind schon wieder beim Anthropomorphismus, wenn wir von Bewegung sprechen. Wenn wir von Bewegung sprechen im Sinne der realen Möglichkeit eines Gegenstandes - der Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen, wie Aristoteles sagt -, dann gehen wir aus von unserer Erfahrung des realisierten Könnens eines Wesens, das auf etwas aus ist. (Fs)

25b Der neuzeitlichen Physik ist es gelungen, Bewegung mit Hilfe der Infinitesimalrechnung zu vergegenständlichen. Die neuzeitliche Infinitesimalrechnung erlaubte es zwar, auf diesen Anthropomorphismus zu verzichten, indem sie die Bewegung in eine unendliche Zahl eng beieinander liegender Ruhezustände zerlegt. Was Bewegung ist, ist damit nicht verstanden. Die Bewegung wird zwar berechenbar, sie wird zu einem Gegenstand mathematischer Naturwissenschaft, aber nur um den Preis, daß das Phänomen der Bewegung als solches eliminiert wird. Leibniz, einer der beiden Erfinder der Infinitesimalrechnung, hat das genau gewußt: Die physikalische Vergegenständlichung der Bewegung hat nur ein Konstrukt zum Gegenstand. Wirkliche Bewegung kann nur verstanden werden, wenn wir ihr einen „conatus", ein Streben zugrunde legen. Aber was Streben heißt, wissen wir wieder nur aus unserer Selbsterfahrung. Wenn wir diese nicht ins Spiel bringen, kommen wir nicht bis zur Wirklichkeit der Bewegung. (Fs) (notabene)

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