Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.) Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.) Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann Stichwort: Anthropomorphismus 6; Gegebenheitsweise anderer Personen als Paradigma für die Gegebenheit von Wirklichkeit überhaupt; Kant: "Ding an sich" (Voraussetzung dafür: praktivische Vernunft: personale Freiheit); Aristoteles: Leben als Sein d. Lebewesen Kurzinhalt: Wieso kommen wir dazu, dem, worüber wir sprechen, ein Sein zuzusprechen, eine Wirklichkeit jenseits dessen, was das Begegnende für uns ist und als was wir es erfahren? ... die Kommunikation von Personen. Personen geben einander zu verstehen ... Textausschnitt: 21a Nachdem ich gezeigt habe, daß Personen füreinander wirklich sind, steht nun noch die Begründung der These aus, die Gegebenheitsweise anderer Personen sei das Paradigma für die Gegebenheit von Wirklichkeit überhaupt. Wieso kommen wir dazu, dem, worüber wir sprechen, ein Sein zuzusprechen, eine Wirklichkeit jenseits dessen, was das Begegnende für uns ist und als was wir es erfahren? Gibt es dafür noch einmal eine Basis in der Erfahrung selbst? (Fs) (notabene)
21b Es gibt eine solche Basis, und das ist die Kommunikation von Personen. Personen geben einander zu verstehen, daß sie selbst noch etwas jenseits dessen sind, als was sie sich zeigen. Der Schmerz des anderen ist nicht mein Schmerz. Zu einer absoluten Gewißheit aber wird uns diese Differenz dort, wo wir selbst diejenigen sind, zu denen und über die gesprochen wird. Ich mag mir einbilden, der andere sei nur mein Traum. Ich kann von mir nicht denken, ich sei nur der Traum des anderen. (Fs)
21c Dieses Bewußtsein liegt jeder Anerkennung von Wirklichkeit jenseits der Gegenständlichkeit für uns zugrunde. Es lag auch dem kantischen Begriff eines „Dinges an sich" zugrunde, der in der Kritik der reinen Vernunft zwar leer bleibt, in der Kritik der praktischen Vernunft aber einen konkreten Inhalt gewinnt, und der kann kein anderer sein als: personale Freiheit. Aber es ist klar, daß dieser Inhalt bereits die Voraussetzung dafür war, daß der Gedanke eines „Dinges an sich" jenseits jeder möglichen Erfahrung überhaupt gefaßt werden konnte. (Fs) (notabene)
21d Dieser Schritt von unserer Selbsterfahrung zur Wirklichkeitserfahrung überhaupt ist uns am unmittelbarsten verständlich, wo es sich um höher entwickelte Tiere mit zentralem Nervensystem handelt. Wir billigen diesen Tieren Subjektivität zu. Darum reden Menschen zu Tieren, und darum gibt es Tierschutzgesetze, die der rücksichtslosen Objektivierung von Tieren Grenzen setzen. Wir betrachten sie als „wirklich", wir billigen ihnen „Sein" jenseits ihres Objektseins zu. Wir beanspruchen nicht, wissen zu können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Aber wir setzen voraus, daß es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein, während es nicht irgendwie ist, ein Auto oder ein Computer zu sein. Das heißt, wir erkennen der Fledermaus „Sein" zu. Dieses Sein, das sie mit uns gemeinsam hat, heißt „Leben". „Leben", schreibt Aristoteles, „ist das Sein der Lebewesen". Leben, wie wir es selbst erfahren, ist nicht ein bestimmter komplexer Zustand von Materie. Ich erfahre mich nicht als Zustand von etwas, das nicht Mensch ist. Der Mensch ist, um mich wieder aristotelisch auszudrücken, lebendige Substanz, also eigentliche und primäre Wirklichkeit, von der vielerlei Zustände existieren können, die aber selbst nicht Zustand, sondern basaler Träger und Inbegriff von Zuständen ist. Und so auch, nehmen wir an, die Fledermaus. Wir billigen ihr Leben, also Selbstsein zu. (Fs)
22a Es ist nicht von ungefähr, daß ich in diesem Zusammenhang von „zubilligen", „anerkennen" usw. spreche. Wir sahen ja schon: Sein im Sinne von Wirklichkeit ist nicht ein empirisches Datum. Es zwingt sich nicht auf. Um es zu realisieren, bedarf es eines freien Aktes der Vernunft. Das muß nicht ein ausdrücklicher und reflektierter Akt sein, aber in diesem Erlebnis steckt schon Freiheit: die Möglichkeit, meine Zentralstellung aufzugeben und zu sehen, daß es außerhalb meiner ein Selbstsein gibt, das nicht durch Objektsein für mich definiert ist. Nur in einem Akt der Anerkennung ist die Person als Person gegeben. Aber das gilt für jede Wirklichkeitserfahrung in gewisser Weise. Ich muß eine Fledermaus nicht als wirklich betrachten, nicht als Lebewesen mit Subjektivität, das nicht nur von mir angesehen wird, sondern mich ansieht oder auf andere Art wahrnimmt. Ich kann es - wie die Cartesianer - als Maschine ansehen und die Schmerzäußerungen eines Tieres ebenso wie das Saufen des Pferdes oder den Freudentanz meines Hundes, wenn ich nach Hause komme, als Vorgänge, die sich von ihrer mechanischen Simulation nicht unterscheiden. Es gibt kein zwingendes Kriterium für die Wirklichkeit von Subjektivität. Aber es gibt gute Gründe dafür, solche anzunehmen, das heißt, nicht uns allein für lebendig zu halten, und es gibt deshalb eine moralische Mißbilligung derer, die die Anerkennung von Lebendigem als lebendig verweigern. Ontologie und Ethik sind nicht zu trennen. Liebe und Gerechtigkeit sind nicht möglich unter der Voraussetzung des Solipsismus, also unter der Annahme, daß die anderen Menschen und die anderen Lebewesen nur meine Träume sind. Menschlichkeit und Freude im Umgang mit Tieren sind nicht möglich, wenn Tiere nicht leben und erleben, das heißt wenn es nicht irgendwie ist, ein Tier dieser oder jener Art zu sein. (Fs) (notabene) ____________________________
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