Datenbank/Lektüre


Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 05; Religion - Kontingenzbewältigung 1; Begriff "möglicher Welten" - Glaube an freie Schöpfung; atheistische Kontingenzbewältigung - > Kontingenzbeseitigung (absurd: Abwesenheit von erwartetem Sinn)

Kurzinhalt: Die Idee der Kontingenz der Welt wird philosophisch erst im Raum des Islam und des Christentums entwickelt, genauso wie der in der modernen Logik so wichtig gewordene Begriff »möglicher Welten«.

Textausschnitt: 22a
15. Kontingenzbewältigung sei, worum es in der Religion geht, so werden wir heute belehrt. Das paßt zu den zwei Prädikaten Gottes. »Was Gott tut, das ist wohlgetan, es bleibt gerecht sein Wille. Wie er fängt meine Sachen an, so will ich halten stille.« Hermann Lübbe liebt diese Lieder, und sie sind ja auch schön. Kontingenzbewältigung, das soll heißen, sich mit dem abfinden, was man nicht ändern kann, obwohl man sich denken und wünschen kann, daß es anders wäre. Sich abfinden oder sich anfreunden? Es gibt auch eine atheistische Kontingenzbewältigung, die es dabei bewenden läßt, daß die Dinge sind, wie sie sind, eine Lebenskunst, die darin besteht, sich mit Enklaven von Sinn und Freude in einem absurden Ganzen zu begnügen. Aber was heißt hier absurd? Absurd ist Abwesenheit von Sinn dort, wo wir ihn erwarten. Wenn wir, zum Beispiel mit Hilfe der Wissenschaft, gelernt haben, im Ganzen dessen, was ist, nicht so etwas wie Sinn zu suchen, werden wir auch nicht mehr von Absurdität sprechen. (Fs)

Der Mond, durch die hohen Zweige schimmernd,
sagen die Dichter alle, sei mehr
als der Mond, durch die hohen Zweige schimmernd.
Mir aber, der sich nicht vorstellen kann,
was der Mond, durch die hohen Zweige schimmernd,
anders sein könne
als der Mond, durch die hohen Zweige schimmernd, ist er wirklich nicht mehr
als der Mond, durch die hohen Zweige schimmernd.
Fernando Pessoa

24a Die Wahrheit ist, daß der Glaube an das Dasein Gottes jene Kontingenz, die er »bewältigt«, überhaupt erst erzeugt oder zumindest außerordentlich verschärft. Die Idee der Kontingenz der Welt wird philosophisch erst im Raum des Islam und des Christentums entwickelt, genauso wie der in der modernen Logik so wichtig gewordene Begriff »möglicher Welten«. Denn was soll es heißen, etwas könnte anders sein, als es ist? Es kann heißen, daß das Anderssein nicht aus logischen Gründen ausgeschlossen wäre. Es kann heißen, daß es aus dem, was vorausging, naturgesetzlich notwendig folgt. Aber schon dies ist zweideutig. Denn wenn auch zwei Ereignisreihen sich aus Naturgesetzen ergeben, so gibt es doch nicht immer ein weiteres Naturgesetz, aus dem sich das Ereignis ergibt, das aus der Interferenz dieser Reihen folgt. Wir sprechen hier von Zufall und meinen, es hätte auch etwas anderes geschehen können. Aber was heißt hier »können«? Der Zufall ist nach Aristoteles genauso »Ursache« wie andere Ursachen. Die Tatsache, daß dem Ereignis nichts vorausging, was sein Eintreten determinierte, bedeutet nicht irgendein »Können« mit Bezug auf einen alternativen Gang der Dinge. Mit einer Ausnahme: Wo wir selbst oder andere Menschen, die wir als freie Subjekte von Handlungen betrachten, im Spiel sind, da hat es Sinn, von einem alternativen Können zu sprechen und mit Bezug auf bestimmte Handlungsergebnisse zu sagen, wir hätten auch etwas anderes tun können. Nur mit Bezug auf frei handelnde Wesen haben kontrafaktische Annahmen einen mehr als metaphorischen Sinn. Der Gedanke, die Welt könnte anders sein, als sie ist, ja sogar die Naturgesetze seien kontingent, konnte erst entstehen auf dem Hintergrund des Gedankens eines Ursprungs der Welt aus einer freien Entschließung. Gottesglaube als Kontingenzbewältigung kann deshalb nichts anderes heißen, als daß die Wunde nur geheilt werden kann durch das Eisen, das sie schlug. Darum taugt dieser Gedanke kaum für eine funktionalistische Religionsbegründung. Die atheistische Kontingenzbewältigung ist radikaler als die religiöse. Sie ist Kontingenzbeseitigung. Dies ist allerdings vielleicht aus psychologischen Gründen unmöglich. Menschen können sich schwer von dem Gedanken trennen, etwas könnte anders sein, als es ist. Aber das heißt vermutlich nur, daß Menschen sich schwer vom Gedanken an Gott trennen können. (Fs) (notabene)

25a
16. Kontingenzbewältigung kann allerdings noch etwas anderes bedeuten. Manchmal sind die Dinge besser, als wir annehmen konnten. Manchmal geschieht etwas Herrliches. Und es gibt Augenblicke, wo wir das eigene Dasein als reines Geschenk erleben, als Wunder. Glaube an Gott ist Wunderglaube. »Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien.« (Wittgenstein) Einen Zwang, nach dem eines geschehen müßte, weil etwas anderes geschehen ist, gibt es nicht. Es gibt nur eine logische Notwendigkeit. Moderne Theologen wollen oft Gott auf die Ebene der sogenannten Erstursache, das heißt einer Art transzendentaler Bedingung für das Geschehen in der Welt verbannen, die sich aus dem Geschehen selbst herauszuhalten hat. Aber sie können dafür keinen Grund angeben außer dem Vorurteil, das Wittgenstein nennt. Wer prinzipiell an Wunder glaubt, ist in Gefahr, den gesunden Menschenverstand zu verlieren und leichtgläubig zu sein, weil er die Kriterien des Wahrscheinlichen verloren hat. Aber diese Gefahr ist gering. In der Regel sind Menschen, die an Gott glauben, skeptisch gegenüber Wunderberichten; geneigt, ihnen keinen Glauben zu schenken, gleichzeitig aber jederzeit auf das Wunder zu warten, das sie überzeugt. Die höchste Form des Bedürfnisses der Kontingenzbewältigung ist das Bedürfnis, dankbar zu sein. Hier kann der Atheismus keinen Ersatz bieten, denn Kontingenzbeseitigung wäre hier gleichbedeutend mit der Beseitigung des Glücks, danken zu können. Es ist eine schöne und wahre Armut der deutschen Sprache, daß sie für felicitas und fortuna nur das eine Wort >Glück< besitzt. Dank gibt es nur gegenüber einem Adressaten. Sonst wird er zur Façon de parler. Wo die Klage keinen Adressaten hat, hat auch der Dank keinen. Er kann nur wirklich sein, wenn der Adressat wirklich ist. »We really never advance a step beyond ourselves« - wenn dieser programmatische Satz Humes wahr ist, dann können wir uns weiterhin vielfältig amüsieren. Auf Freude im emphatischen Sinn des Wortes müssen wir verzichten. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt