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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Das unsterbliche Gerücht

Titel: Das unsterbliche Gerücht

Stichwort: Gottesgerücht 01; JHWH - Gott der Philosophen; Frege: Unterscheidung zw. »Sinn« und »Bedeutung« eines Ausdrucks (nomen intentionis - nomen rei; Beispiel: Abendstern - Morgenstern);

Kurzinhalt: Daß heute viele Theologen auf die begleitende intentio recta, also auf die Frage nach der Referenz, der »Bedeutung« jenseits des »Sinnes« der Texte und damit nach deren Konvergenz, verzichten, ... Ihr Thema sind nur Texte... das heißt: fiction.

Textausschnitt: Das unsterbliche Gerücht

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1. In den siebziger Jahren drang aus dem sibirischen Gulag die Stimme Andrej Sinjawskijs zu uns, die sich »Eine Stimme im Chor« nannte: »Wir haben uns lange genug Gedanken über die Menschen gemacht. Es ist Zeit, an Gott zu denken.« Wenn Gott ist, ist es immer Zeit, an Gott zu denken. Aber bestimmte Situationen sind wohl geeigneter als andere, daran zu erinnern. Nur, was denkt man, wenn man an Gott denkt? Ist an ihn denken nicht schon alles? Kann man etwas über ihn denken? Wenn er ist, ist er das Ende des Denkens. Auch der Gedanke, Gott sei nicht, ist das Ende des Denkens. Aber das andere Ende. Nicht, wie der Gedanke an Gott, die überschwengliche Bestätigung des Denkens, sondern seine Selbstwiderlegung. Licht und Dunkel sind auf entgegengesetzte Weise Ende des Sehens. (Fs)

2. Daß ein Wesen ist, das auf deutsch »Gott« heißt, ist ein altes, nicht zum Schweigen zu bringendes Gerücht. Dieses Wesen ist nicht ein Teil dessen, was in der Welt vorkommt. Es soll vielmehr Grund und Ursprung des Universums sein. Daß allerdings in der Welt selbst Spuren dieses Ursprungs und Hinweise auf ihn zu entdecken sind, gehört mit zu dem Gerücht. Und das allein ist der Grund, warum man verschiedene Sätze über Gott sagen kann. (Fs)

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3. Unmittelbar wahrgenommen wurde Gott bisher von niemandem, wenn man absieht von der einen bekannten Ausnahme, von dem, der Gott seinen Vater nannte und der, wenn wir den zeitgenössischen Berichterstattern glauben dürfen, den Anspruch erhob, aus unmittelbarer Umgangserfahrung mit ihm zu sprechen und deshalb berechtigt zu sein, die Vorstellungen seiner jüdischen Umwelt von Gott zu modifizieren. Neue Gründe für die Annahme seiner Existenz brachte er nicht vor. Sie war in dieser Umwelt nicht kontrovers. Die Modifikationen waren zudem nicht so fundamental, daß sie es erforderlich gemacht hätten, den hebräischen Eigennamen JHWH abzulehnen, der den Juden, ihrer Überlieferung zufolge, von Gott selbst zum Gebrauch übergeben worden war, einem Gebrauch, der übrigens vorwiegend im Verschweigen bestand. Jesus lehrte nicht einen anderen Gott, sondern er sprach anders über denselben: »Er ist mein Vater, der mich ehrt, von dem ihr sagt: er ist unser Gott. Dabei kennt ihr ihn nicht. Ich aber kenne ihn.« (Joh 8,55)

4. Diente der Name JHWH als Eigenname zunächst der Unterscheidung des eigenen von den anderen »Göttern«, so enthielt doch die Bedeutung dieses Namens »Ich bin« bereits den Anspruch seines Trägers auf Singularität. Ursprung des materiellen Universums und, falls es eine solche gibt, einer »geistigen Welt« kann nur ein einziger sein, jedenfalls dann, wenn Schöpfung nicht nur Gestaltung aus einem vorgegebenen Chaos ist, sondern die metaphysische Macht voraussetzt, aus dem Nichtsein ins Dasein zu rufen. Beim Eintritt der Juden in die hellenistische Welt ergab sich die Identifikation von JHWH mit dem, den die Philosophen im Gegensatz zum antiken Götterhimmel »den Gott« nannten, fast von selbst. (Fs)

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5. Fremd war dieser Epoche noch die philologische und kulturrelativistische intentio obliqua, die diese Identifikation rückgängig zu machen sucht, weil hebräisches und griechisches Denken angeblich inkompatibel seien. Pascals »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Nicht Gott der Philosophen« scheint schon eine solche Inkompatibilität im Auge zu haben. Aber ein kulturrelativistisches Aperçu hätte Pascal nicht in sein Rockfutter eingenäht. Der Ausruf drückt den Unterschied zweier Erfahrungsweisen aus. (Fs)

6. Freges Unterscheidung zwischen »Sinn« und »Bedeutung« eines Ausdrucks - nomen intentionis und nomen rei, sagten die Scholastiker - paßt hier gut. »Abendstern« und »Morgenstern« können in einem Gedicht ganz unterschiedliche Funktionen haben. Sie bedeuten denselben Stern, sogar dann, wenn die Benutzer der Worte das gar nicht wissen. In literarischen Texten gibt es keine Referenz, keine Bedeutung jenseits des Sinnes. Figuren solcher Texte sind nichts über das hinaus, was der Autor uns über sie mitteilt oder andeutet oder was sich aus diesen Mitteilungen und Andeutungen ergibt. Niemals sind zwei Figuren miteinander identisch, wenn der Autor nicht die Absicht hatte, sie als identisch zu präsentieren. Es ist die Aufgabe literarischer Kritik, wie sie zur biblischen Hermeneutik gehört, Unterschiede nicht nur zwischen hebräischen Bibeltexten und griechischen Philosophentexten, sondern auch Unterschiede biblischer Texte untereinander sichtbar zu machen. Daß heute viele Theologen auf die begleitende intentio recta, also auf die Frage nach der Referenz, der »Bedeutung« jenseits des »Sinnes« der Texte und damit nach deren Konvergenz, verzichten, das allerdings ist Indiz für eine theologia etsi deus non daretur. Ihr Thema sind nur Texte. Nur Texte aber, das heißt: fiction. (Fs) (notabene)

Kommentar (11.11.2014), vgl. zu oben: Wilhelmsen, Political Theory, Chapter 8, Jaffa, the school of Strauss ..., etwa 217b

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7. Es gibt Katechismen, die mit der Geschichte des Auszugs Israels aus Ägypten statt mit der Lehre von Gott und der Schöpfung beginnen. Sie behandeln den Schöpfungsbericht in der intentio obliqua der Geschichte seiner Entstehung. Sie zerschneiden das reale Band der Tradition des Gottesgerüchts, das die Christenheit mit dem Judentum verbindet. Man streitet auch nicht mehr mit den Juden, weil der gemeinsame Gegenstand abhanden gekommen ist, über den man streiten könnte, zugunsten eines vagen Bewußtseins religionshistorischer Filiation. De gustibus non est disputandum. Wenn es nur Gottesbilder und keinen Gott gibt, dann können die Bilderverehrer einander gelten lassen in jener »Empfindsamkeit, welche alles in seiner Art gut zu finden versichert«, von welcher Versicherung Hegel schreibt, daß sie »Gewalt an der Vernunft leidet, welche gerade darum etwas nicht gut findet, weil es eine Art ist«. Wenn der Gottesbegriff eine »Bedeutung« hat, wenn ihm also jenseits allen Meinens etwas in der Realität entspricht, dann meinen Juden, Christen, Muslime und die Texte der klassischen europäischen Philosophie denselben, wenn sie von Gott sprechen, und es bleibt sinnvoll, darüber zu streiten, wie man über ihn sprechen muß, um richtig zu sprechen. (Fs)

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8. Warum die Beschränkung auf Jerusalem und Athen, wenn von Gott die Rede sein soll? Könnten wir nicht zumindest mit Spinoza das Wort »Gott« überall dort substituieren, wo ein Absolutes als Grund gedacht wird, das in keiner Weise mehr daseinsrelativ ist auf etwas anderes Wirkliches? Könnten wir nicht das Ganze dessen, was ist, immer dort »Gott« nennen, wo es nicht reduktionistisch, also nicht so gedacht wird, daß es das Beste von dem, was ist, zwar erklären soll, aber zugleich unterbietet - der Fall des Materialismus? Oder könnten wir nicht »Gott« auch jenes Absolute nennen, das zwar nichts von dem, was ist, begründet, es aber statt dessen zum bloßen Schein herabsinken läßt, wie das Sein des Parmenides oder das Nirwana des Buddhismus? Wir können das Wort »Gott« gebrauchen, wie wir wollen. Aber wenn es uns auf die Eindeutigkeit der Referenz ankommt, dann sind wir nicht so frei. Bestimmtheit der Referenz gibt es nur, wo wir uns nicht auf etwas, sondern auf jemanden beziehen. Der Begriff »Gott« in seiner üblichen, von der biblischen Tradition inspirierten Bedeutung meint das Absolute als Person. Es scheint damit seiner mythologischen Herkunft näher zu bleiben als pantheistische oder buddhistische Vorstellungen. Allerdings scheint es nur, wenn Gott jemand ist, einen klaren und bestimmten Unterschied zu machen, ob wir die Existenz Gottes annehmen, leugnen oder für zweifelhaft halten. (Fs)

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9. Was macht es für einen Unterschied? Brechts Herr K., gefragt, ob es einen Gott gibt, antwortet pragmatisch: »Ich rate dir nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf die Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage: Du hast dich schon entschieden. Du brauchst einen Gott.« Herr K. meint natürlich nicht, daß der Frager wirklich Gott braucht. Was er, aufgrund seines interessebedingten falschen Bewußtseins, braucht, ist der Glaube an Gott. Herr K. nimmt die Frage nach einer möglichen wirklichen, von unserem Glauben ganz unabhängigen Existenz Gottes gar nicht zur Kenntnis. Damit wird deutlich, daß auch er sich schon entschieden hat. Herrn Keuners Argument ist nur die Umkehr des traditionellen christlichen Arguments gegen die Ungläubigen: Sie haben ein Interesse an der Nichtexistenz Gottes. Sie wollen ihm nicht danken, schreibt Paulus im Römerbrief. Danken ist, wie auch Klagen und Bitten, offensichtlich auch eine Weise des Verhaltens, während Herr K. vermutlich nur an Lebenspraktisches denkt. Und da er nicht unvernünftig ist, würde er also wohl, wenn er glaubte, daß Gott existiert, auch etwas dieser Art zu tun sich gedrängt fühlen, was er aber nicht gern möchte. So könnte der Frager ihm antworten: »Auch du hast dich schon entschieden. Dein Verhalten zeigt: Du brauchst die Nichtexistenz Gottes. Oder, genauer gesagt, du brauchst es, an die Nichtexistenz Gottes zu glauben oder wenigstens an seine Existenz nicht zu glauben.«

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