Autor: Thomas, Aquin von Buch: Der neue Bund und die Gnade, I-II 106-114 Titel: F12_106 - Vom Gesetz des Evangeliums oder dem Neuen Gesetz, in sich selbst betrachtet (mit Einleitung) Stichwort: Einleitung zu Bd. 14 d. Dt. Thomasausgabe 1; Gesetz des Evangelium - Ordnungsdenken; Leben als geheimnisvolles Zusammenspiel von Bindung und Freiheit; Gesetz u. Gnade als Hilfe; Christus als Weg; Gesetz als Gnade, Gnade als Gesetz; Warnung vor Buchstaben- Kurzinhalt: ... auffallend, daß weder Christus noch Paulus in ihrer Verkündigung den Ausdruck „Neues Gesetz" kennen ... So wird Gesetz Gnade, und Gnade wird Gesetz — wahrlich eine kühne Gleichung, wohl die kühnste Gleichung ...
Textausschnitt: EINLEITUNG
Wo aber die Sünde überhandnahm, erwies sich die Gnade noch überschwenglicher.
Röm 5, 20.
E7a Im Bewußtsein einer Menschheit, die noch wesentlich dachte und fühlte, war die Namensgebung bei der Geburt eines Menschen eine Sache von schicksalhafter Bedeutung. Das gilt für die Sagen und Mythen der Griechen, Römer und Germanen, das gilt in einem viel tieferen Sinne von der Namensgebung in der Geschichte des auserwählten Volkes. Wie oft treffen wir hier auf den Vorgang, daß Gott Selbst den Namen dessen bestimmt, den Er zu einem besonderen Amte oder Auftrage erwählt hat. So bestimmt Er unter vielen anderen durch Seinen Boten ausdrücklich auch den Namen des Mannes, der Seinem Eingeborenen die Wege bereiten sollte zu den Herzen Seiner Menschenkinder. Lk 1, 13 heißt es: „Dein Weib Elisabeth wird dir einen Sohn gebären, den sollst du Johannes nennen", wiewohl doch keiner in der ganzen Verwandtschaft des Vaters diesen Namen trug (V. 61). Wir müssen also von vornherein annehmen, daß der Name Johannes in besonderer Weise die tieferen Absichten Gottes ausspricht, nicht nur für die Person des Vorläufers, sondern für die Führung Seines auserwählten Volkes und darüber hinaus für das Schicksal der gesamten Menschheit. Johannes aber bedeutet soviel wie: Gott ist gnädig. So steht also nach Gottes Anordnung und die letzten Motive Seiner Vorsehung offenbarend über dem Portal des Neuen Bundes das in der Gestalt des Johannes zum Symbol bestimmte Wort: Gott ist gnädig! Herrlicher könnte der göttliche Sinn der gesamten Heilsgeschichte, insbesondere aber der des Neuen Bundes nicht ausgesprochen werden als durch dieses eine Wort: Gott ist gnädig! Damit haben wir zugleich die Klammer, die die beiden Traktate des vorliegenden Bandes in der einen Wirklichkeit der Gnade zusammenfaßt. (Fs)
7b Die Theologie, die Thomas über das „Neue Gesetz" entwickelt, weist ganz in dieselbe Richtung. Gleich auf den ersten Seiten unseres Bandes sagt er über das „Neue Gesetz" ganz große Dinge. „Das, was seine [des Neuen Gesetzes] ganze Kraft ausmacht, ist die Gnade des Heiligen Geistes... Und so ist das Neue Gesetz hauptsächlich des Heiligen Geistes Gnade selbst, die den Christgläubigen gegeben wird" (S. 5). Ja, „im Evangelium ist nichts enthalten, was nicht zur Gnade des Heiligen Geistes gehören würde" (S. 6). So ist das Neue Gesetz im eigensten Sinne „das Gesetz der Gnade" (S. 13); es ist „nicht nur das Gesetz Christi, sondern auch das Gesetz des Heiligen Geistes" (S. 19) — Aussagen, die Thomas immer neu variiert. Wir sind gewohnt, in der Verbindung „Gesetz und Gnade" eine Antithese oder gar eine Antinomie zu sehen. Gesetz ist unbeugsam, unerbittlich, hart, gnadenlos; ist das, was den Menschen hemmt, bedrängt, in ständiger Furcht hält. So ungefähr sieht Paulus in der Tat das Gesetz des Alten Bundes. Das Gesetz des Neuen Bundes dagegen ist ganz Gnade, Gnade des Heiligen Geistes, der die personhafte LIEBE ist. „Daher wird das Neue Gesetz, das hauptsächlich in der geistigen, ins Herz eingesenkten Gnade besteht, das 'Gesetz der Liebe' genannt" (S. 26). Altes und Neues Gesetz unterscheiden sich nach Augustinus/Thomas wie Furcht und Liebe, wie zeitliche und ewige Verheißung, wie äußeres Werk und innere Tat des Glaubens (S. 22/26). (Fs)
8a Das Neue Gesetz korrespondiert in seiner alles bisher Dagewesene transzendierenden „Neuheit" haarscharf mit der nova creatura, der „Neuschöpfung" bei Paulus (2 Kor 5,17; Gal 6,15), mit der „Neuheit des Lebens" (Röm 6, 4), mit der „Neuheit des Geistes" (Röm 7,6), mit der „Neuheit der Gesinnung" (Röm 12,2); denn Paulus ist ja nur der von Gott berufene Künder und Deuter des Neuen, das Christus uns im Auftrage des Vaters mit Seinem „Neuen Gesetz" gebracht hat. (Fs)
8b Nun ist es aber auffallend, daß weder Christus noch Paulus in ihrer Verkündigung den Ausdruck „Neues Gesetz" kennen. Wieso kommt dann Thomas dazu, die „Frohbotschaft" der biblischen Berichte über das Leben Jesu unter den von den Jahrtausenden her so sehr belasteten Begriff des Gesetzes zu bringen? Wie kann man überhaupt das göttlich-flutende Leben, das in den Evangelien nur ein schwaches, mehr menschlich-göttliches als gott-menschliches Echo gefunden hat (vgl. S. 9 f.), in einen Begriff einfangen wollen! Und noch dazu in den starren Begriff des Gesetzes! (Fs; tblStw: Recht) (notabene)
8c Die Antwort auf diese Frage liegt zutiefst im Ordnungsdenken des hl. Thomas begründet; der nähere Grund aber liegt in der Systematik seiner Sittenlehre und in dem ihm eigentümlichen Begriff von „Gesetz". Nacheinander untersucht er im ersten Teil des zweiten Buches der Summa Ziel und Wesen der menschlichen Handlung, ihre inneren Quellen und Gefährdungen und schließlich auch die äußeren Hilfen, die es dem Menschen ermöglichen und erleichtern sollen, das Ebenbild Gottes, das er in sich trägt, zur Entfaltung und Vollendung zu führen (Prolog zu I-II: Bd. 9). Zu diesen äußeren Hilfen, die es dem Menschen möglich und leicht machen, in seiner sittlichen Lebensführung den rechten Weg nicht zu verfehlen, zählt Thomas Gesetz und Gnade. (Fs) (notabene)
9a Das menschliche Leben ist nicht vollendete Willkür, sondern ein geheimnisvolles Zusammenspiel von Bindung und Freiheit. Es ist gefährlich, wo die Bindung unterschlagen, es ist Sicherheit und Seligkeit, wo sie in Freiheit bejaht wird. Der Mensch ist sich nicht selbst Gesetz, sein Wille ist nicht eins mit seinem Wesen, seiner Natur, sonst könnte er dieser seiner Natur nicht zuwiderhandeln. Zudem kennt er nach der ersten verhängnisvollen Entgleisung seinen Weg schlecht; er braucht neue Wegweiser und Verkehrsregeln, die ihm in dem Wirrwarr der unendlich vielen Möglichkeiten seinen Weg mit Sicherheit finden helfen. Eine solche Hilfe will das Gesetz sein. Nichts weiter. (Fs) (notabene)
9b Thomas behandelt in Fr. 91 (Bd. 13) die verschiedenen Wirklichkeiten, auf die der Begriff des Gesetzes Anwendung finden kann: Die Lex aeterna, das „ewige Gesetz", das identisch ist mit dem im Geiste Gottes lebendigen Weltenplan, der sich in der göttlichen Vorsehung auswirkt; das „Naturgesetz", das mit der unveränderlichen Natur der Wesen selbst gegeben ist und daher seine immanente Sanktion in sich selbst trägt, so daß es nie ungestraft verleugnet wird; das „menschliche Gesetz", das im Gewissen nur so weit verpflichtet, als es dem Naturgesetz (und dem positiv-göttlichen Gesetz) nicht widerstreitet; schließlich das „göttliche Gesetz", das von Gott ausdrücklich durch Offenbarung gegeben ist und in die beiden Phasen des Alten und Neuen Gesetzes unterschieden wird. (Fs) (notabene)
9c Gesetz ist also Hilfe, Wegweiser. So verschieden demnach die Wege sein können, so verschieden werden die Wegweiser sein. Das „Neue Gesetz" ist der von Gott Selbst aufgestellte Wegweiser, der den „Neuen Weg" zeigt. Das Ziel ist dasselbe wie das des Alten Bundes (S. 24), der neue Weg aber ist Christus: „ICH bin der Weg", sagt Er von Sich Selbst (Jo 14,6). Daher gilt vom „Neuen Gesetz" dasselbe, was wir von Christus, dem menschgewordenen Gottessohne, sagen müssen: Es ist „im höchsten Grade geistig" (S. 12); es ist „das Gesetz der Freiheit" (S. 46), „denn schon — meint Thomas (S. 53) — stand die Zeit vollkommener Freiheit unmittelbar bevor, so daß alles, was in sich nicht notwendig zur Tugend gehört, völlig ihrem [der Jünger] freien Ermessen überlassen werden konnte". Das alles aber wird überstrahlt von der das innerste Wesen Christi und Gottes offenbarenden Wirklichkeit der Gnade, dem „vornehmsten Geschenk" der Liebe Gottes (S. 163). Kein Wunder, daß das Neue Gesetz wie von selbst einmündet in den „weit erhabeneren Weg", von dem Paulus 1 Kor 12,31 spricht. (Fs; tblStw: Gnade)
10a So wird Gesetz Gnade, und Gnade wird Gesetz — wahrlich eine kühne Gleichung, wohl die kühnste Gleichung, die je in der Geschichte der Menschheit für die Sphäre des Sittlichen aufgestellt wurde. Nur zu begreiflich, daß — bei der menschlichen Schwäche für das verlockend Rationale des Buchstabens — selbst im neuen christlichen Äon immer wieder die Versuchung auftauchte, das Gesetz stärker zu betonen als die Gnade und so in den „Geist der Knechtschaft und der Furcht" (Röm 8,15) zurückzufallen. Diese Gefahr signalisiert Thomas durch zwei große Warnungstafeln. So schreibt er gleich im zweiten Artikel der ersten Frage dieses Bandes: „Auch der Buchstabe des Evangeliums würde töten, wenn nicht innerlich die heilende Glaubensgnade zugegen wäre" (S. 9). Ausdrücklich stellt er im selben Artikel fest: Glaubensurkunden und Gebote sind zweitrangig, entscheidend ist „die innerlich verliehene Gnade des Heiligen Geistes", der mit der Gnade erst das vorbehaltlose Ja zu dem im „Gesetz" ausgesprochenen Willen des Vaters schenkt. (Fs) (notabene)
10b Die zweite Warnungstafel vor dem dem Evangelium innerlich fremden Buchstabengeist und der daraus folgenden rein formalen Deutung oder Anwendung des Neuen Gesetzes stellt Thomas auf in 107, 4, wo er mit einem ernsten Worte Augustins vor der willkürlichen Häufung von Vorschriften warnt, „damit der Wandel der Gläubigen nicht zu sehr belastet werde" und die Lage der Christen schließlich nicht unerträglicher werde, als die der Juden war (S. 39 f.). (Fs) ____________________________
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