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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Ende d. Modernität 6; Widerstand gegen den Gnostizismus; englische, amerikansiche, französische, deutsche Revolution (verschiedene Grade an Immanentisierung)

Kurzinhalt: Die deutsche Revolution schließlich, die sich in einer Umwelt ohne starke institutionelle Tradition vollzog, brachte zum ersten Mal ökonomischen Materialismus, Rassenbiologie, korrupte Psychologie, Szientismus und technologische Brutalität voll ins ...

Textausschnitt: 6. Der Widerstand gegen den Gnostizismus

257a Das Symbol des Leviathan wurde von einem englischen Denker als Antwort auf die puritanische Gefahr entwickelt. Unter den größeren politischen Gesellschaften Europas hat jedoch gerade England dem gnostischen Totalitarismus den stärksten Widerstand entgegengesetzt; und das Gleiche gilt für Amerika, das von denselben Puritanern begründet wurde, welche die Besorgnisse Hobbes' erweckt hatten. Hierzu mag eine abschließende Bemerkung angebracht sein. (Fs)

257b Die Erklärung ist in der Dynamik des Gnostizismus zu finden. Wie mehrfach erwähnt, ist die Modernität eine mit der mittelmeerischen Tradition rivalisierende Entwicklung innerhalb der westlichen Gesellschaft. Ferner wurde erwähnt, daß der Gnostizismus selbst einen Radikalisierungprozeß durchmachte, von der mittelalterlichen Immanentisierung des Geistes, die Gott in seiner Transzendenz beließ, bis zur späteren radikalen Immanentisierung des Eschaton, wie wir sie bei Feuerbach und Marx finden. Die Unterhöhlung der westlichen Zivilisation durch den Gnostizismus ist ein langsamer, sich über ein Jahrtausend erstreckender Prozeß. Die verschiedenen politischen Gesellschaften des Westens nun stehen in unterschiedlicher Relation zu diesem langwierigen Prozeß, je nach dem Zeitpunkt, zu dem sich ihre nationalen Revolutionen ereigneten. Dort, wo die Revolution früher erfolgte, war ihr Träger eine weniger radikale Welle des Gnostizismus, und gleichzeitig war der Widerstand, den die Kräfte der Tradition ihr entgegensetzten, wirksamer. Wo die Revolution später erfolgte, wurde sie von einer radikaleren Welle getragen, und die traditionelle Umwelt war durch das allgemeine Vordringen der Modernität bereits tiefer unterhöhlt. Die englische Revolution im siebzehnten Jahrhundert ereignete sich zu einer Zeit, als der Gnostizismus noch nicht seine radikale Säkularisierung durchgemacht hatte. Wie oben ausgeführt, waren die linksgerichteten Puritaner bestrebt, sich als Christen, wenn auch als solche von besonders reiner Art, auszugeben. Als die Regelung von 1690 getroffen wurde, hatte England sich die institutionelle Kultur eines aristokratischen Parlamentarismus sowie die Mores eines christlichen Gemeinwesens bewahren können, die nun als nationale Institutionen sanktioniert wurden. Die amerikanische Revolution, deren Debatte schon stark durch die Psychologie der Aufklärung beeinflußt war, hatte doch immerhin das Glück, noch innerhalb des institutionellen und christlichen Klimas des ancien régime zum Abschluß zu kommen. In der französischen Revolution war dann die radikale Welle des Gnostizismus so stark, daß sich die Nation spaltete: in die laizistische Hälfte, die sich auf die Revolution gründet, und die konservative Hälfte, die sich um die Rettung der christlichen Tradition bemühte und heute noch bemüht. Die deutsche Revolution schließlich, die sich in einer Umwelt ohne starke institutionelle Tradition vollzog, brachte zum ersten Mal ökonomischen Materialismus, Rassenbiologie, korrupte Psychologie, Szientismus und technologische Brutalität voll ins Spiel - kurz: sie war ein Phänomen hemmungsloser Modernität. Die westliche Gesellschaft als Ganzes ist somit eine vielschichtige Zivilisation, in welcher die amerikanische und englische Demokratie die älteste, am festesten konsolidierte Schicht kultureller Tradition darstellt, während der deutsche Bereich ihre fortschrittlichste, modernste Schicht bildet. (Fs) (notabene)

259a In dieser Situation gibt es einen Hoffnungsstrahl: Denn die amerikanischen und englischen Demokratien, die in ihren Institutionen die Wahrheit der Seele am stärksten repräsentieren, sind gleichzeitig auch existentiell die stärksten Mächte. Aber es wird aller unserer Anstrengungen bedürfen, um diesen Funken zu einer Flamme zu entfachen durch die Unterdrückung der gnostischen Korrruption und die Wiederherstellung der Kräfte der Zivilisation. Heute ist das Schicksal in der Schwebe. (Fs; E04; 29.11.2004)

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