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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Ende d. Modernität 4a; Hobbes; Existenz (Gegenbewegung zu gnostischen Revolutionären); libido dominandi; Leidenschaften (Natur d. Menschen); Gegenposition zur klassischen u. christl. Ethik (Zwecke, summum bonum)

Kurzinhalt: Die menschliche Natur müßte in der bloßen Existenz ihre Erfüllung finden ... Hobbes stellte der gnostischen Immanentisierung des Eschaton, welche die Existenz gefährdete, eine radikale Immanenz der Existenz entgegen, die das Eschaton leugnete.

Textausschnitt: 4.Hobbes

245a Die Funktion des Gnostizismus als der Ziviltheologie der westlichen Gesellschaft, seine Zerstörung der Wahrheit der Seele und seine Mißachtung der Existenzproblematik wurden ausführlich genug geschildert, um die schicksalhafte Bedeutung des Problems klarzumachen. Die Untersuchung kann jetzt zu dem großen Denker zurückkehren, der die Natur des Problems entdeckte und versuchte, es durch seine Repräsentationstheorie zu lösen. Im siebzehnten Jahrhundert schien die Existenz der englischen nationalen Gesellschaft in Gefahr, von den gnostischen Revolutionären zerstört zu werden, so wie heute in größerem Ausmaß dieselbe Gefahr die Existenz der gesamten westlichen Gesellschaft bedroht. Hobbes versuchte, dieser Gefahr durch die Entwicklung einer Ziviltheologie zu begegnen, welche das Existieren einer Gesellschaft zu der von ihr vertretenen Wahrheit machte - neben dieser sollte keine andere Wahrheit gelten. Das war zu seiner Zeit eine sehr vernünftige Idee, insofern sie das ganze Gewicht auf die Existenz legte, die von den Gnostikern arg vernachlässigt worden war. Aber ihr praktischer Wert stand und fiel mit der Annahme, daß die transzendente Wahrheit, welche die Gesellschaften zu repräsentieren versuchten, nachdem die Menschheit durch Philosophie und Christentum hindurchgegangen war, ihrerseits vernachlässigt werden konnte. Im Gegensatz zu den Gnostikern, die eine Gesellschaft nicht für existenzwürdig hielten, wenn ihre Ordnung nicht einen bestimmten Wahrheitstypus repräsentierte, erklärte Hobbes nachdrücklich, daß jede Ordnung gut sei, wenn sie nur die Existenz der Gesellschaft gewährleistet. Um diesem Gedanken Gültigkeit zu verleihen, mußte er seine neue Idee vom Menschen schaffen. Die menschliche Natur müßte in der bloßen Existenz ihre Erfüllung finden; eine über die Existenz hinausgehende Bestimmung des Menschen müßte verneint werden. Hobbes stellte der gnostischen Immanentisierung des Eschaton, welche die Existenz gefährdete, eine radikale Immanenz der Existenz entgegen, die das Eschaton leugnete. (Fs) (notabene)

246a Das Ergebnis dieser Bemühung war ambivalent. Um seine Stellung gegen die kämpfenden Kirchen und Sekten zu behaupten, mußte Hobbes bestreiten, daß deren Eifer von einer, wenn auch fehlgeleiteten Wahrheitssuche beseelt sei. Ihr Kampf mußte, vom Standpunkt der immanenten Existenz aus gesehen, als ein ungezügelter Ausdruck ihres Machttriebs interpretiert und ihr vorgeblich religiöses Anliegen als Tarnung ihrer existentiellen Leidenschaft entlarvt werden. Bei der Durchführung dieser Analyse erwies sich Hobbes als einer der größten Psychologen aller Zeiten; seine Demaskierung der libido dominandi hinter dem Vorwand religiösen Eifers und reformierenden Idealismus ist heute noch so gültig wie zur Zeit, als er sie niederschrieb. Diese großartige psychologische Leistung wurde jedoch teuer erkauft. Hobbes diagnostizierte richtig das korrumpierende Element der Leidenschaft in der Religiosität der puritanischen Gnostiker. Aber er interpretierte nicht die Leidenschaft als Quelle der Korruption im Leben - des Geistes, sondern das Leben des Geistes als das Extrem der existentiellen Leidenschaft. Er konnte daher die Natur des Menschen nicht von ihrer maximalen Differenzierung durch die Erfahrung der Transzendenz her interpretieren, und vor allem konnte er nicht die Leidenschaft und besonders die Grundleidenschaft der superbia als die stets gegenwärtige Gefahr des Abfalls von der wahren Natur erkennen. Er mußte im Gegenteil das Leben der Leidenschaft als die Natur des Menschen deuten, so daß die Phänomene des geistigen Lebens als Extreme der superbia erschienen. (Fs) (notabene)

247a Dieser Konzeption gemäß ist We have become completely secular die Natur des Menschen in seinen Leidenschaften zu suchen, während die Gegenstände, auf die sich die Leidenschaften richten, kein legitimer Gegenstand der Untersuchung sind.1 Das ist die fundamentale Gegenposition zur klassischen und christlichen Ethik. Die aristotelische Ethik geht von den Zwecken der Handlungen aus und erforscht die Ordnung des Menschenlebens im Sinne einer Ausrichtung aller Handlungen auf einen höchsten Zweck, das summum bonum. Hobbes hingegen betont, daß es das summum bonum, "von dem in den Büchern der alten Moralphilosophen gesprochen wird",2 nicht gebe. Mit dem summum bonum verschwindet jedoch die Quelle der Ordnung aus dem menschlichen Leben, und nicht nur aus dem Leben des Einzelmenschen, sondern auch aus dem der Gesellschaft. Denn - wie an früherer Stelle ausgeführt - die Ordnung des Lebens in der Gesellschaft beruht auf der homonoia im aristotelischen und christlichen Sinne, d. h. auf der Teilnahme am gemeinsamen nous. Hobbes steht daher vor der Aufgabe, eine Gesellschaftsordnung aus isolierten Einzelpersonen zu konstruieren, die nicht auf einen gemeinsamen Zweck ausgerichtet, sondern nur von ihren individuellen Leidenschaften angetrieben sind. (Fs) (notabene)

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