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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 2a; Symbolik der Wiedervergöttlichung; Joachim von Flora (Fiore); Symbol der Trinität; Symbole: 3 Zeitalter, Führer, Prophet Bruderschaft; nationalsozialistisches Reiche (Sonderfall)

Kurzinhalt: In seiner trinitarischen Eschatologie schuf Joachim das Aggregat der Symbole, die bis zum heutigen Tag die Selbstinterpretation der modernen politischen Gesellschaft beherrschen.

Textausschnitt: 2. Die Symbolik der Wiedervergöttlichung

157a Die westliche christliche Gesellschaft war in die spirituale und temporale Ordnung artikuliert, mit Papst und Kaiser als den obersten Repräsentanten in existentiellem wie in transzendentem Sinn. Aus dieser Gesellschaft mit ihrem festgelegten System von Symbolen erheben sich nun mit dem Wiederaufsteigen der Eschatologie des Reiches die spezifischen Repräsentationsprobleme. Die Bewegung hatte eine lange soziale und geistige Vorgeschichte, doch brachte das Verlangen nach der De-Divinisation [sic; eg: Re-Divinisation???; Richtigkeit der eg-Deutung ergibt sich aus 175a] der Gesellschaft erst gegen Ende des zwölften Jahrhunderts eine schärfer umrissene neue Symbolik hervor. Die Analyse wird von dem ersten klaren und umfassenden Ausdruck der Idee in der Person und im Werk des Joachim von Flora ausgehen. (Fs)

158a Joachim brach mit der augustinischen Auffassung einer christlichen Gesellschaft, als er das Symbol der Trinität auf den Ablauf der Geschichte anwandte. In seiner Spekulation hatte die Menschheitsgeschichte drei den Personen der Trinität entsprechende Zeitabschnitte. Die erste Periode der Welt war das Zeitalter des Vaters; mit dem Erscheinen Christi begann das Zeitalter des Sohnes. Aber das Zeitalter des Sohnes war nicht das letzte der Geschichte, es folgte ihm als drittes das Zeitalter des heiligen Geistes. Die drei Zeitalter wurden als Steigerungen spiritualer Erfüllung charakterisiert. Das erste Zeitalter entfaltete das Leben des Laien, das zweite das aktiv-kontemplative Leben des Priesters, und das dritte sollte das vollkommene spirituale Leben des Mönches bringen. überdies hatten die drei Zeitalter vergleichbare innere Strukturen und eine errechenbare Dauer. Der strukturelle Vergleich ergab, daß jedes Zeitalter mit einer Trinität führender Persönlichkeiten beginnt, d. h. mit zwei Vorläufern, denen der eigentliche Führer des Zeitalters folgte. Aus der Errechnung der Zeitdauer konnte man schließen, daß das Zeitalter des Sohnes im Jahre 126o ablaufen würde. Der Führer des ersten Zeitalters war Abraham, der des zweiten Christus; und Joachim sagte voraus, daß um das Jahr 1260 der Dux e Babylone, der Führer des dritten Zeitalters, erscheinen würde.1 (Fs) (notabene)

159a In seiner trinitarischen Eschatologie schuf Joachim das Aggregat der Symbole, die bis zum heutigen Tag die Selbstinterpretation der modernen politischen Gesellschaft beherrschen. (Fs) (notabene)

159b Das erste dieser Symbole ist die Auffassung der Geschichte als einer Folge dreier sich ablösender Zeitalter, deren letztes das abschließende Dritte Reich ist. Als Varianten dieses Symbols sind die humanistische und die enzyklopädistische Periodisierung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit erkennbar; ferner Turgots und Comtes Theorie von der Aufeinanderfolge einer theologischen, einer metaphysischen und einer wissenschaftlichen Phase; Hegels Dialektik der drei Stadien der Freiheit und der selbstbewußten geistigen Vollendung; die Marx'sche Dialektik von den drei Stufen des primitiven Kommunismus, der Klassengesellschaft und des endzeitlichen Kommunismus; und schließlich das nationalsozialistische Symbol des Dritten Reiches - obwohl dies ein besonderer Fall ist, der weiterer Untersuchung bedarf. (Fs) (notabene)

159c Das zweite Symbol ist das des Führers.2 Es wurde unmittelbar wirksam in der Bewegung der franziskanischen Spiritualen, die in Franziskus die Erfüllung der Weissagung Joachims sahen. Seine Wirksamkeit würde verstärkt durch Dantes Spekulation über den Dux des neuen spiritualen Zeitalters. Seine Spur kann weiterhin verfolgt werden durch die parakletischen Figuren, die homines spirituales und homines novi des Spätmittelalters, der Renaissance und der Reformation. Es läßt sich als eine Komponente in Machiavellis principe erkennen. Im Zeitalter der Säkularisierung erscheint es in den übermenschen Condorcets, Comtes und Marx', bis es schließlich den Schauplatz unserer Zeit in Gestalt der parakletischen Führer der neuen Reiche beherrscht. (Fs) (notabene)

160a Das dritte Symbol, das bisweilen in das zweite übergeht, ist das des Propheten des neuen Zeitalters. Um der Idee eines abschließenden Dritten Reiches Gültigkeit und Überzeugungskraft zu verleihen, muß angenommen werden, daß der Ablauf der Geschichte als ein verstehbares, sinnvolles Ganzes der menschlichen Erkenntnis zugänglich sei, entweder durch eine direkte Offenbarung oder durch spekulative Gnosis. Daher wird der gnostische Prophet oder in den späteren Stadien der Säkularisierung der gnostische Intellektuelle zu einem Bestandteil der modernen Zivilisation. Joachim selbst ist das erste Exemplar der Gattung. (Fs) (notabene)

160b Das vierte Symbol ist das der Bruderschaft autonomer Personen. Das dritte Zeitalter des Joachim werde, kraft der erneuten Herabkunft des Geistes, die Menschen ohne sakramentale Gnadenvermittlung zu Gliedern des neuen Reiches umgestalten. Im dritten Zeitalter werde die Kirche zu bestehen aufhören, weil die charismatischen Gaben, die zum vollkommenen Leben notwendig sind, den Menschen ohne Spendung der Sakramente erreichen. Zwar hat Joachim selbst das neue Zeitalter konkret als eine mönchische Ordnung aufgefaßt, aber die Idee einer Gemeinschaft der im Geiste Vollendeten, die ohne institutionelle Autorität zusammenleben können, war nunmehr prinzipiell formuliert. Die Idee ließ unzählige Varianten zu. Sie ist in verschiedenen Graden von Reinheit in den Sekten des Mittelalters und der Renaissance zu verfolgen, wie auch in den puritanischen Kirchen der Heiligen. In ihrer säkularisierten Form ist sie zu einer machtvollen Komponente des zeitgenössischen demokratischen Bekenntnisses geworden. Und sie ist das dynamische Zentrum des Marx'schen Mystizismus vom Reich der Freiheit und vom Absterben des Staates. (Fs) (notabene)

161a Das nationalsozialistische Dritte Reich ist ein Sonderfall. Zwar ist Hitlers Voraussage eines Tausendjährigen Reiches auf die joachitische Spekulation zurückzuführen, wie sie in Deutschland durch den Wiedertäuferflügel der Reformation und durch das Johanneische Christentum eines Fichte, Hegel und Schelling vermittelt wurde. Dennoch erscheint die konkrete Anwendung des trinitarischen Schemas auf das im Jahre 1806 zu Ende gegangene erste Deutsche Reich, auf das 1918 untergegangene Bismarckreich und das Dritte Reich der nationalsozialistischen Bewegung, verglichen mit den weltgeschichtlichen Spekulationen der deutschen Idealisten, eines Comte oder eines Marx, flach und engstirnig. Der nationalistisch-zufällige Einschlag ist darauf zurückzuführen, daß das Symbol des "Dritten Reichs" nicht dem spekulativen Bestreben eines Philosophen von Rang entstammt, sondern durch zweifelhafte literarische Übertragungen entstanden ist. Die nationalsozialistischen Propagandisten entnahmen es dem gleichnamigen Buch Moeller van den Brucks;3 und Moeller, der ohne nationalsozialistische Ambitionen war, hatte es bei seiner Arbeit an der deutschen Dostojewski-Ausgabe als geeignetes Symbol entdeckt. Die russische Idee vom Dritten Rom hat denselben Charakter einer Vermischung der Eschatologie des spiritualen Reiches mit ihrer Verwirklichung durch eine politische Gesellschaft wie die nationalsozialistische Idee des Dritten Reiches. Diese andere Abart der politischen Re-Divinisation muß jetzt untersucht werden. (Fs)

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