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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Glaube, Grenze d. Wirklichkeitsverständnisses 1; Historismus (G. Vico); verum est ens - verum quia factum; Wahrheit: das Sichtbare u. Machbare; Antike, Mittelalter: das Sein selbst ist wahr (Dinge als Gedachtsein; techne); Mensch als Faktum; Descartes

Kurzinhalt: Beschränkung auf die »Phainomena« ... Wir haben es aufgegeben, das verborgene An-sich der Dinge zu suchen, in das Wesen des Seins selbst hinabzuloten ... Damit hat sich im neuzeitlichen Denken und Existieren allmählich ein neuer Begriff von Wahrheit ...

Textausschnitt: 4. Die Grenze des modernen Wirklichkeitsverständnisses und der Ort des Glaubens

51a Wenn wir vermöge der uns heute gegebenen historischen Erkenntnis den Weg des menschlichen Geistes überblicken, soweit er sich unserem Auge darbietet, werden wir feststellen, dass es in den verschiedenen Perioden der Entfaltung dieses Geistes verschiedene Formen des Stehens zur Wirklichkeit gibt, etwa die magische Grundorientierung oder die metaphysische oder schließlich heute die wissenschaftliche (wobei hier »wissenschaftlich« vom Modell der Naturwissenschaften her gedacht ist). Jede dieser menschlichen Grundorientierungen hat auf ihre Weise mit dem Glauben zu tun, und jede steht ihm auch auf ihre Weise im Weg. Keine deckt sich mit ihm, aber auch keine ist einfach neutral zu ihm; jede kann ihm dienen, und jede kann ihn hindern. Für unsere heutige wissenschaftsbestimmte Grundeinstellung, die unser aller Daseinsgefühl ungefragt prägt und uns den Ort im Wirklichen zuweist, ist die Beschränkung auf die »Phainomena«, auf das Erscheinende und in den Griff zu Nehmende, kennzeichnend. Wir haben es aufgegeben, das verborgene An-sich der Dinge zu suchen, in das Wesen des Seins selbst hinabzuloten; solches zu tun erscheint uns als fruchtloser Versuch, die Tiefe des Seins gilt uns als letztlich unerreichbar. Wir haben uns auf unsere Perspektive eingestellt, auf das Sehbare im weitesten Sinn, auf das, was unserem messenden Zugriff fassbar ist. Die Methodik der Naturwissenschaft beruht auf dieser Beschränkung auf das Erscheinende. Es genügt uns. Mit ihm können wir hantieren und so uns selbst jene Welt erschaffen, in der wir als Menschen zu leben vermögen. Damit hat sich im neuzeitlichen Denken und Existieren allmählich ein neuer Begriff von Wahrheit und Wirklichkeit herausgebildet, der meistens unbewusst als die Voraussetzung unseres Denkens und Redens waltet, der aber nur bewältigt werden kann, wenn er auch seinerseits der Prüfung des Bewusstseins ausgesetzt wird. An dieser Stelle wird die Funktion des nicht-naturwissenschaftlichen Denkens sichtbar, das Unbedachte zu bedenken und die menschliche Problematik solcher Orientierung dem Bewusstsein vor den Blick zu bringen. (Fs) (notabene)

a) Das erste Stadium: Die Geburt des Historismus.

52a Wenn wir zu erkennen versuchen, wie es zu der eben geschilderten Einstellung kam, werden wir, wenn ich recht sehe, wohl zwei Stadien des geistigen Umbruchs feststellen können. Das erste, von Descartes vorbereitet, erhält seine Gestaltung bei Kant und vorher schon, in einem etwas anderen Denkansatz, bei dem italienischen Philosophen Giambattista Vico (1688-1744), der wohl als Erster eine völlig neue Idee von Wahrheit und Erkenntnis formuliert und in einem kühnen Vorgriff die typische Formel des neuzeitlichen Geistes hinsichtlich der Wahrheits- und Wirklichkeitsfrage geprägt hat. Der scholastischen Gleichung »Verum est ens - das Sein ist die Wahrheit« - stellt er seine Formel entgegen: »Verum quia factum«. Das will sagen: Als wahr erkennbar ist für uns nur das, was wir selbst gemacht haben. Mir will scheinen, dass diese Formel das eigentliche Ende der alten Metaphysik und den Anfang des spezifisch neuzeitlichen Geistes darstellt. Die Revolution des modernen Denkens gegenüber allem Vorangegangenen ist hier mit einer geradezu unnachahmlichen Präzision gegenwärtig. Für Antike und Mittelalter ist das Sein selbst wahr, das heißt erkennbar, weil Gott, der Intellekt schlechthin, es gemacht hat; er hat es aber gemacht, indem er es gedacht hat. Denken und Machen sind dem schöpferischen Urgeist, dem Creator Spiritus, eins. Sein Denken ist ein Erschaffen. Die Dinge sind, weil sie gedacht sind. Für antike und mittelalterliche Sicht ist daher alles Sein Gedachtsein, Gedanke des absoluten Geistes. Das bedeutet umgekehrt: Da alles Sein Gedanke ist, ist alles Sein Sinn, »Logos«, Wahrheit1. Menschliches Denken ist von da aus Nach-Denken des Seins selbst, Nachdenken des Gedankens, der das Sein selber ist. Der Mensch aber kann dem Logos, dem Sinn des Seins, nachdenken, weil sein eigener Logos, seine eigene Vernunft, Logos des einen Logos, Gedanke des Urgedankens ist, des Schöpfergeistes, der das Sein durchwaltet. (Fs) (notabene)

53a Demgegenüber erscheint im Blickpunkt der Antike und des Mittelalters das Werk des Menschen als das Zufällige und Vorübergehende. Das Sein ist Gedanke, daher denkbar, Gegenstand des Denkens und der Wissenschaft, die nach Weisheit strebt. Das Werk des Menschen hingegen ist das aus Logos und Unlogik Vermischte, das überdies mit der Zeit in die Vergangenheit absinkt. Es lässt keine volle Verstehbarkeit zu, denn es fehlt ihm an Gegenwart, die Voraussetzung des Schauens ist, und es fehlt ihm an Logos, an durchgehender Sinnhaftigkeit. Aus diesem Grunde war der antike und mittelalterliche Wissenschaftsbetrieb der Ansicht, dass das Wissen von den menschlichen Dingen nur »Techne«, handwerkliches Können, aber nie wirkliches Erkennen und daher nie wirkliche Wissenschaft sein könne. Deshalb blieben in der mittelalterlichen Universität die artes, die Künste, nur die Vorstufe der eigentlichen Wissenschaft, die dem Sein selbst nachdenkt. Man kann diesen Standpunkt noch bei Descartes am Anfang der Neuzeit deutlich festgehalten finden, wenn er ausdrücklich den Wissenschaftscharakter der Historie bestreitet. Der Historiker, der die alte römische Geschichte zu kennen vorgebe, wisse schließlich weniger von ihr, als ein Koch in Rom wusste, und Latein zu verstehen bedeute, nicht mehr zu können, als was auch Ciceros Dienstmädchen konnte. Rund hundert Jahre später wird Vico den Wahrheitskanon des Mittelalters, der sich hier noch einmal ausdrückte, regelrecht auf den Kopf stellen und damit die grundlegende Wende des neuzeitlichen Geistes zu Worte bringen. Nun erst beginnt jene Einstellung, die das »wissenschaftliche« Zeitalter heraufführt, in dessen Entfaltung wir noch immer stehen1. (Fs) (notabene)

54a Versuchen wir das, weil es für unsere Frage grundlegend ist, noch etwas weiter zu bedenken. Für Descartes erscheint noch einzig die von den Unsicherheiten des Tatsächlichen gereinigte, rein formale Vernunftgewissheit als wirkliche Gewissheit. Die Wende zur Neuzeit kündigt sich immerhin an, wenn er diese Vernunftgewissheit wesentlich vom Modell der mathematischen Gewissheit her versteht, Mathematik zur Grundform alles vernünftigen Denkens erhebt2. Während aber hier die Tatsachen noch ausgeklammert werden müssen, wenn man Sicherheit will, stellt Vico die genau umgekehrte These auf. Formal im Anschluss an Aristoteles erklärt er, dass wirkliches Wissen ein Wissen der Ursachen sei. Ich kenne eine Sache, wenn ich ihre Ursache kenne; das Begründete verstehe ich, wenn ich den Grund weiß. Aber aus diesem alten Gedanken wird etwas durchaus Neues gefolgert und gesagt: Wenn zu wirklichem Wissen das Wissen der Ursachen gehört, dann können wir nur das wahrhaft wissen, was wir selbst gemacht haben, denn nur uns selbst kennen wir. Das bedeutet dann, dass an die Stelle der alten Gleichsetzung von Wahrheit und Sein die neue von Wahrheit und Tatsächlichkeit tritt, erkennbar ist nur das »Faktum«, das, was wir selbst gemacht haben. Nicht dem Sein nachzudenken ist die Aufgabe und Möglichkeit des menschlichen Geistes, sondern dem Faktum, dem Gemachten, der Eigenwelt des Menschen, denn nur sie vermögen wir wahrhaft zu verstehen. Der Mensch hat den Kosmos nicht hervorgebracht, und er bleibt ihm in seiner letzten Tiefe undurchsichtig. Vollkommenes, beweisbares Wissen ist ihm nur erreichbar innerhalb der mathematischen Fiktionen und bezüglich der Geschichte, die der Bereich des vom Menschen selbst Gewirkten und ihm deshalb Wissbaren ist. Inmitten des Ozeans des Zweifels, der nach dem Zusammenbruch der alten Metaphysik am Beginn der Neuzeit die Menschheit bedroht, wird hier im Faktum das feste Land wieder entdeckt, auf dem der Mensch versuchen kann, sich eine neue Existenz zu erbauen. Die Herrschaft des Faktums beginnt, das heißt die radikale Zuwendung des Menschen zu seinem eigenen Werk als dem allein ihm Gewissen. (Fs) (notabene)

55a Damit ist jene Umwertung aller Werte verbunden, die aus der folgenden Geschichte wirklich eine »neue« Zeit gegenüber der alten werden lässt. Was vordem verachtet und unwissenschaftlich gewesen war, die Historie, bleibt nun als einzig wahre Wissenschaft neben der Mathematik übrig. Was vorher allein des freien Geistes würdig schien, dem Sinn des Seins nachzudenken, erscheint jetzt als müßiges und auswegloses Bemühen, dem kein echtes Wissenkönnen entspricht. So werden nun Mathematik und Historie zu den beherrschenden Disziplinen, ja, die Historie verschlingt gleichsam den ganzen Kosmos der Wissenschaften in sich hinein und verwandelt sie alle grundlegend. Philosophie wird durch Hegel, auf andere Weise durch Comte zu einer Frage der Geschichte, in der das Sein selbst als geschichtlicher Prozess zu begreifen ist; Theologie wird bei F. Chr. Baur zur Historie, ihr Weg die streng historische Forschung, die dem damals Geschehenen nachfragt und dadurch der Sache auf den Grund zu kommen hofft; Nationalökonomie wird bei Marx geschichtlich umgedacht, ja, auch die Naturwissenschaften sind von dieser allgemeinen Tendenz zur Geschichte betroffen: Bei Darwin wird das System des Lebendigen als eine Geschichte des Lebens begriffen; an die Stelle der Konstanz dessen, was bleibt, wie es geschaffen ist, tritt eine Abstammungsreihe, in der alle Dinge voneinander kommen und aufeinander rückführbar sind12. So erscheint aber endlich die Welt nicht mehr als das feste Gehäuse des Seins, sondern als ein Prozess, dessen beständige Ausbreitung die Bewegung des Seins selber ist. Das bedeutet: Die Welt ist nur noch als vom Menschen gemachte wissbar. Über sich vermag der Mensch im Letzten nicht mehr hinauszuschauen, es sei denn wieder auf der Ebene des Faktums, wo er sich selber als Zufallsprodukt uralter Entwicklungen erkennen muss. Auf diese Weise entsteht nun eine höchst eigentümliche Situation. In dem Augenblick, in dem eine radikale Anthropozentrik einsetzt, der Mensch nur noch sein eigenes Werk erkennen kann, muss er doch zugleich lernen, sich selbst als ein bloß zufällig Gewordenes, auch nur als »Faktum«, hinzunehmen. Auch hier wird ihm gleichsam der Himmel eingerissen, aus dem er zu kommen schien, und nur die Erde der Fakten bleibt in seinen Händen zurück - die Erde, in der er jetzt mit dem Spaten die mühsame Geschichte seines Werdens zu entziffern sucht. (Fs) (notabene)

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