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Autor: Scheler, Max

Buch: Abhandlungen und Aufsätze

Titel: Abhandlungen und Aufsätze

Stichwort: Moderne Menschenliebe 2; Ressentiment; nicht Sorge um Heil, sondern Förderung des Gemeinwohls

Kurzinhalt: Nicht in der Gewinnung des Heils der Seele des Liebenden als Glied des Gottesreichs und der in ihr erwirkten Förderung des fremden Heiles, sondern in der Förderung des sog. »Gesamtwohls« bestünde hiernach der Wert der Liebe.

Textausschnitt: 176a Endlich [94a] ist aber auch die Wertschätzung, die der »allgemeinen Menschenliebe« zuteil wird, eine ganz anders fundierte, als diejenige ist, die innerhalb der christlichen Moral die Liebe findet. Nicht in der Gewinnung des Heils der Seele des Liebenden als Glied des Gottesreichs und der in ihr erwirkten Förderung des fremden Heiles, sondern in der Förderung des sog. »Gesamtwohls« bestünde hiernach der Wert der Liebe. Die Liebe erscheint hier nur als das X im Gefühlsleben, das zu gemeinnützigen Handlungen führt, bzw. als die »Disposition« zu solchen Gefühlen. Nur sofern sie diesen möglichen Wirkungswert hat, wird ihr selbst ein positiver Wert beigemessen. Und während nach christlicher Anschauung eine Welt die beste wäre, in der möglichst viel Liebe ist — selbst wenn die zu gemeinnützigen Handlungen, die Liebe bewirken kann, ja ebenso notwendige Einsicht in die fremden Gemütszustände, d. h. die Fähigkeit des »Verstehens« anderer Menschen und die nicht minder notwendige Einsicht in die natürlichen und sozialen Kausalverhältnisse fehlen würde und durch diesen Mangel gemeinschädliche Handlungen bestimmt würden [176] — gilt hier die Menschenliebe selbst nur als einer der kausalen Faktoren, die das allgemeine Wohl zu vergrößern vermögen. Gegenüber der Tatsache aber, daß andere Gefühle und Triebe, wie Selbsterhaltungstrieb, Geschlechtstrieb, Eifersucht, Herrschsucht, Eitelkeit vom kausalen Standpunkt die »Wohlfahrt« und ihre Entwicklung noch weit mehr wie Liebe fördern1), muß der Vertreter der modernen Menschenliebe antworten, daß sich die Wertschätzung der Liebe nicht nur nach dem Maße des allerdings verschwindenden Nutzens, den sie schafft — Narkotika und Listerverband haben doch weit mehr »Schmerzen gestillt und Tränen getrocknet« als Liebe! — bemißt, sondern auch danach, daß sie gegenüber der Verbreitung jener Triebe eine so seltene Sache ist, daß sie einer Vermehrung bedarf, die wiederum durch die Prämie, die das soziale Werturteil darauf setzt, erzielt werde. Würden die »altruistischen« Regungen, die ja hier mit »Liebe« zusammenfallen sollen, einmal zufällig das quantitative Übergewicht über die egoistischen erhalten, so würden auch die letzteren die höhere Schätzung finden. Daß diese »Theorie« aber dem evidenten Sinne unserer Wertschätzung der Liebe völlig widerspricht, bedarf keiner Ausführung. (Fs)

178a Aus dieser tiefsten und innersten Verschiedenheit der Tatsachen und Begriffe der christlichen Liebe und der allgemeinen Menschenliebe läßt es sich — was Nietzsche ganz entgangen zu sein scheint — nun auch verstehen, daß im Namen der modernen Menschenliebe toto coelo verschiedene Forderungen ergangen sind als im Namen der christlichen Liebe; ja häufig sogar diametral entgegengesetzte Forderungen. Die hochchristlichen Zeiten des Mittelalters, in denen die christliche Liebe als Lebensform und Idee die reinsten Blüten trieb, empfanden keinen Gegensatz dieses Prinzips zu der feudalen und aristokratischen Standesordnung der staatlichen und kirchlichen Gesellschaft, zu Hörigkeit; keinen Gegensatz zu dem wenig »gemeinnützigen«, contemplativen Leben der Mönche2), zu den vielen Bildungen der Territorialstaaten und Herrschaften, der Fülle der heimatlich gebundenen Sitten; zu der scharfen Zucht in [178] den Formen der Erziehung; zu kriegerischem und ritterlichem Wesen und Wertschätzungen; keinen Gegensatz zu qualifizierter Todesstrafe und Folter und dem sonstigen harten Strafkodex; ja nicht einmal zu Inquisition und Autodafé! Wurden doch die Urteile der Inquisition sogar »im Namen der Liebe« verhängt, nicht nur mit der Intention der Liebe auf die gläubige Gesamtheit, die durch den Ketzer vergiftet und um ihr Heil betrogen würde, sondern mit der ganz ehrlichen — wenn auch von unserem Standpunkte in Aberglauben gegründeten — Intention der Liebe auf den Ketzer selbst, dessen Seele durch seine leibliche Verbrennung gerade im besonderen Maße der göttlichen Gnade empfohlen werden sollte. Alle diese Tatsachen, die sich mit dem christlichen Liebesprinzip wohl vertrugen3), ja zum Teil sich als Erziehungsmittel zur christlichen Liebe aus ihm — freilich zum Teil nur unter abergläubischen Voraussetzungen — rechtfertigen ließen, werden im Namen der allgemeinen Menschenliebe zurückgewiesen, bekämpft und umgeworfen. Von vornherein eine demokratisierende Kraft, wird in ihrem Namen die Auflösung der feudalen und aristokratischen Ordnung der Gesellschaft, aller Formen der Hörigkeit und persönlichen Unfreiheit, die Abschaffung der »faulen«, sich dem gemein [179] nützigen Leben entziehenden Mönchsorden gefordert. Während es noch für Bossuet selbstverständHch war, daß die Liebe zum Vaterland den Vorzug vor der Liebe zur Menschheit verdiene, da die im Vaterland investierte Wertfülle Werte von wesenhaft höherem Rang enthalte, als es die Werte sind, die alle Menschen noch gemeinsam ihr eigen nennen können, wird es nun selbstverständlich, daß die Liebe um so wertvoller sei, je größer der Kreis ist, auf den sie sich bezieht; auch hier verdrängt der quantitative Maßstab den qualitativen: und demgemäß heischt die »allgemeine Menschenliebe« immer mächtiger bis zur französischen Revolution, wo im »Namen der Menschheit« Kopf für Kopf heruntergeschlagen wurde, die Ablegung der nationalen und territorialen »Scheuklappen«, die staatsbürgerliche und schließlich auch ökonomisch-soziale Gleichheit der Menschen; die Uniformierung des Lebens in Sitte und Brauch, die »humanere« und gleichartigere Form der Erziehung. In ihrem Namen ergeht steigend die Forderung eines allgemeinen Weltfriedens und ein erbitterter Kampf gegen alle Lebensformen und Werturteile, die aus dem ritterlichen Leben, ja aus der Kriegerkaste überhaupt stammen. In ihrem Namen wird die Milderung der Strafjustiz, Abschaffung der Folter und der qualifizierten Todes- strafe verlangt, und in der Inquisition können ihre Vertreter — anstatt eine auf Aberglaube fundierte Einrichtung — nur Spott und Hohn auf das Liebesgebot überhaupt erblicken. Auch das Verhalten zu den Armen, Kranken, sittlich Schlechten wird aus der modernen Menschenliebe oder Humanität heraus ein innerlich grundverschiedenes. Es ist nicht die persönliche Liebestat von Mensch zu Mensch, sondern an erster Stelle die unpersönliche »Einrichtung«, die Wohlfahrtseinrichtung, die gefordert und gewertet wird. Und es ist nicht das überquellende Leben, das selig aus seiner Fülle, seinem Überfluß heraus — seiner inneren Gewappnetheit und Sicherheit heraus liebend dahingibt, sondern die in der Anschauung der äußeren Ausdruckserscheinungen von Schmerz und Armut sich ergebende Hineinziehung und Ansteckung durch das in diesen Erscheinungen sich darstellende Depressionsgefühl, das spezifisch moderne »Scheinmitleid« und »Dauern«, das durch die helfende Tat aufgehoben werden soll4). An Stelle der christlichen »Barmherzigkeit« (man fühle die Kraft und den Atem dieses unmodernen Wortes) tritt das »Es dauert mich!«5) Goethe konnte schon 1787 sein Fragezeichen machen zu jener Art, von Herder unter Rousseaus Einfluß gepredigten »Humanität«: »Auch halte ich es für wahr, daß die Humanität endlich siegen wird. Nur fürchte ich, daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des Anderen humaner Krankenwärter sein werde«. Ihren literarischen Ausdruck gewann dann die Bewegung der modernen Menschenliebe zuerst in gewaltigster Form in Rousseau, in den reichen und mannigfaltigen Bindungen dieses großen Geistes freilich oft versteckt, aber doch offensichtlich genug durch das Feuer eines riesenhaften Ressentiment getrieben, aber so suggestiv dargestellt, daß außer Goethe kaum ein großer Deutscher jener Zeit der Ansteckung durch Rousseaus Pathos entging (Fichte, Herder, Schiller, Kant z. B, haben alle ihre Rousseauphase); ihren philosophischen Ausdruck und ihre Formulierung gewann sie vor allem in den positivistischen Kreisen, von A. Comte angefangen, der »die Menschheit« als »Grand-Etre« an die Stelle [182] Gottes setzt. Ihren widerwärtigsten Ausdruck endlich, der freilich nur enthüllt, was an Keimen von Anfang an in der Idee lag, im modernen realistischen »sozialen« Roman und in der dramatischen und lyrischen Hospital- und Lazarettpoesie, sowie der modernen »sozialen« Rechtsprechung. (Fs)

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