Autor: Scheler, Max Buch: Abhandlungen und Aufsätze Titel: Abhandlungen und Aufsätze Stichwort: Moderne Menschenliebe 1; Ressentiment; Protest gegen Gottesliebe; Liebe als Wohlfahrt; Träger des Menschenangesichts Kurzinhalt: Die moderne Menschenliebe ... protestiert gegen die Gottesliebe ... Nicht auf das »Göttliche« im Menschen, sondern auf den Menschen bloß als »Menschen«, sofern er äußerlich als Glied dieser Gattung kenntlich ist, auf den »Träger des Menschenangesichts« , Textausschnitt: IV. RESSENTIMENT UND MODERNE MENSCHENLIEBE
169a Die Nichtbeachtung der Tatsache, daß Liebe im christlichen Sinne immer nur auf das ideale geistige Selbst im Menschen und seine Mitgliedschaft im Gottesreich bezogen ist, brachte es auch mit sich, daß Nietzsche die christliche Liebesidee mit einer völlig verschiedenen, auf einem ganz anderen historischen und psychologischen Boden gewachsenen Idee gleichsetzen konnte, die auf Wertschätzungen beruht, von denen auch wir mit Nietzsche gnnehmen, daß Ressentiment ihre eigentliche Wurzel gewesen ist: Das ist die Idee und die Bewegung der modernen allgemeinen Menschenliebe, oder auch »Liebe zur Menschheit«, oder plastischer ausgedrückt, die »Liebe zu allem, was Menschenengesicht trägt«. Hält man sich nicht an den Gleichkleng der Wörter, sondern an ihre Bedeutung und geistige Atmosphäre, so wird man sofort die Luft einer ganz anderen Welt atmen, wenn man von »christlicher Liebe« zur »allgemeinen Menschenliebe« übergeht. Die moderne Menschenliebe ist zunächst nach allen Richtungen ein polemischer und protestlerischer Begriff. Sie protestiert gegen die Gottesliebe, und damit auch gegen jene christliche Einheit und Harmonie von Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe, welche das Evangelium ausspricht. Nicht auf das »Göttliche« im Menschen, sondern auf den Menschen bloß als »Menschen«, sofern er äußerlich als Glied dieser Gattung kenntlich ist, auf den »Träger des Menschenangesichts« soll sich die Liebe richten1). Und wie diese Idee die Liebe nach »oben« hin partikularisiert auf die von allen höheren Kräften und Werten abgelöste »Menschengattung«, so auch nach »unten« hin gegen die übrigen belebten Wesen, ja die übrige Welt. Wie in ihr der »Mensch« losgelöst erscheint vom »Gottesreich«, so auch losgelöst von den Gebilden und Kräften der übrigen Natur2). Gleichzeitig tritt an die Stelle der Gesamtheit der Seelen, die nach christlicher Anschauuns: auch die Verstorbenen umfaßt, d. h. die gesamte geistig [170] lebendige Menschheit, geordnet nach der Aristokratie ihrer sittlhlichen Personwerte und Verdienste — so also, daß das eigentliche Objekt der Liebe in die sichtbare gegenwärtige Menschheit wohl hineinreicht, soweit göttlich geistiges Leben in ihr aufgegangen ist, aber doch weit umfassender und größer ist als diese — und immer zugänglich in der lebendigen Wechselwirkung von Gebet, Fürbitte, Verehrung — die »Menschheit« als nur gegenwärtiges, sichtbares, begrenztes, irdisches Naturwesen. So wird die »Menschenliebe« auch polemisch und pietätlos gegen die Liebe und Verehrung der Toten, der vergangenen Menschen und gegen die Tradition ihrer geistigen Werte und Willensäußerungen in jeder Form. Und auch darin ändert sich ihr Objekt, daß nun an die Stelle des »Nächsten« und des »Individuums«, in dem sich die personhafte Tiefe des Menschseins allein »darstellt«, »die Menschheit« als Kollektivum tritt und jede Art von Liebe zu einem Teil ihrer, Volk, Familie, Individuum wie eine widerrechtliche Entziehung dessen erscheint, was man nur dem Ganzen als Ganzem schuldet. Eine »Liebe zur Menschheit« kennt die christliche Sprache, charakteristisch genug, nicht! Ihr Grundbegriff heißt »Nächstenliebe«. Dagegen ist die moderne Menschenliebe weder zunächst auf die Person und auf bestimmte Werte geistiger Aktbetätigung gerichtet (und auf den »Menschen« nur soweit, als er »Person« [171] ist und jene Akte durch ihn vollzogen werden, als sich durch ihn also die Gesetzmäßigkeit des »Gottesreiches« vollzieht), noch auf die »nächsten« anschaulichen Wesen, die allein jenes tieferen Eindringens in jene Schicht des geistig Persönlichseins fähig sind, in deren Erfassung die höchste Form der Liebe besteht, — sondern auf die Summe der menschlichen Individuen als Summe. Das Prinzip Benthams: »Jeder gelte für einen und keiner für mehr als einen« ist nur eine bewußte Formulierung der in der Bewegung der modernen »Menschenliebe« von Hause aus liegenden Richtung. Darum erscheint hier jede Liebe zum kleineren Kreise a priori — ohne daß nach den in ihm investierten Werten, ohne daß nach seiner »Gottesnähe« gefragt ist — als eine Entrechtung des größeren Kreises; Vaterlandsliebe z. B. als Entrechtung der »Menschheit« usw3). (Fs)
171a [93a] Wie der Gegenstand der Liebe, ist aber auch die subjektive Seite des Vorgangs in der modernen Menschenliebe ganz verschieden von dem, was in der christlichen Sprache »Liebe« heißt. Die neue Menschenliebe ist nicht zuvörderst Akt und Bewegung, und zwar geistiger Art — nicht minder wesensunabhängig von unserer sinnlich — leiblichen Konstitution wie die Akte des Denkens und ihre Gesetzmäßigkeit — , sondern sie ist Gefühl, und zwar zuständliches Gefühl, wie es in erster Linie an der sinnlichen Wahrnehmung des äußeren Ausdrucks von Schmerz und Freude durch die Übertragungsform der psychischen Ansteckung erwächst. Leiden an den sinnenfälligen Schmerzen und Freude an den sinnenfälligen angenehmen Empfindungen ist der Kern dieser neuen Menschenliebe — nicht einmal Mitleiden mit ihrem Gelittenwerden. Es ist daher kein Zufall, daß die philosophischen und psychologischen Theoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts, die das neue Ethos allmählich theoretisch formulierten, das Wesen der Liebe aus den Erscheinungen der Sympathie, des Mitleids, und der Mitfreude verstehen wollen, diese selbst aber aus dem Phänomen der psychischen Ansteckung4). So insonderheit die großen Engländer von Hutcheson, Adam Smith, D. Hume bis zu Bain. So auch Rosseau5). Das Pathos der modernen Menschenliebe, ihr Aufschrei nach einer sinnlich glückseligeren Menschheit, ihre unterirdisch glühende Leidenschaft, ihre revolutionäre Entrüstung gegen alles, was sie für die Steigerung der sinnlichen Glückseligkeit als Hemmung ansieht an Institution, Tradition, Sitte, das »revolutionäre Herz«, das in ihr pulsiert, steht in einem charakteristischen Gegensatz zu dem hellen und fast kühlen geistigen Enthusiasmus der christlichen Liebe. Es darf uns nicht wundern, daß nun auch die Theorie — dieser historischen Erlebniswendung Gefolgschaft leistend — das Phänomen der Liebe überhaupt — in steigendem Maße — in eine Mechanik notwendiger Täuschungen auflöst. Das Mitgefühl wird entweder auf eine künstliche Hineinversetzung in den fremden Seelenzustand gemäß der Frage: »was würdest du fühlen, wenn es dir so erginge?« und eine Reproduktion eigener Gefühlszustände, die wir bei analogen Anlässen erlebten, zurückgeführt; oder auf ein Hineingerissensein in den fremden Gefühlszustand, eine Art Gefühlshalluzination (Bain) - als litten wir momentan selbst, was wir leiden sehen; oder auf eine »Einfühlung« eigener reproduzierter Gefühlserlebnisse, die durch Nachahmung des fremden Gefühlsausdrucks unmittelbar — ohne besondere »Hineinversetzung« — angeregt werden6); oder schließlich nur auf eine seelische [174] Begleiterscheinung primär entstandener und fixierter gattungsnützlicher Handlungsimpulse, d. h. als Folgeerscheinung des schon im Tierreich wahrnehmbaren Herdentriebs zurückgeführt7). So sinkt Schritt für Schritt auch in der Theorie die Liebe herab von der Höhe, Symbol und Zeichen einer übernatürlichen Ordnung, ja der dem Gottesreiche inwendige Kraftstrom zu sein, zu einer feineren und vermöge der intellektuellen Entwicklung immer verwickeiteren Ausbildung eines tierischen Triebimpulses, der von der sexuellen Sphäre seinen Ursprung nehmend sich immer reicher gegenständlich spezialisiert und immer größere und größere Kreise durch die steigende Ausbildung des Verstandeslebens und der sozialen Entwicklung zu umfassen tendiert. Eine solche Zurückführung der höchsten Erscheinungen der Liebe auf die, in tierischen Gesellschaften schon angelegten Triebe eines gattungsfördernden Handelns ~ wie sie dann schließlich Darwin und H. Spencer unternahmen — , war erst möglich, nachdem das Wesen dieser Erscheinungen völlig verkannt war; und nachdem sich in der historischen Bewegung selbst Gefühle emporgearbeitet hatten, — und eine ihnen entsprechende Idee, — in denen vielleicht in der Tat nicht so wesentlich verschiedene seelische Tatbestände von [175] denen den Kernbestand bilden, die wir bei herdenmäßig lebenden Tieren anzunehmen Grund haben8). (Fs) ____________________________
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