Autor: Balthasar, Hans Urs von Buch: Theologie der Geschichte Titel: Theologie der Geschichte Stichwort: Wesen und Geschichte 1; das Faktische, Konkrete - d. Allgemein-Notwendige, Universale; Empirismus; Hegel: Ehrung/(Abwertung des Geschichtlich-Faktischen; Kurzinhalt: Dieser beruhigenden Reduktion auf die Wesensgesetze gegenüber scheint das Faktisch-Historische, sofern es sich dieser Auflösung widersetzt, kaum etwas Positives, eher nur ein Denkhindernis zu bedeuten... Eine solche Schicksalsgemeinschaft von im Wesen kom Textausschnitt: HINFÜHRUNG
a. Wesen und Geschichte
9a Menschliches Denken hat, seitdem es zu philosophieren gelernt hat, die Dinge zu erfassen gesucht durch eine grundsätzliche Zerlegung in zwei Elemente: das Faktische, das als solches das Einzelne, Sinnliche, Konkrete und Zufällige ist, und das Allgemein-Notwendige, dessen Universalität damit zusammenhängt, daß es das Abstrakte ist, das Gesetz und die Geltung, die vom Einzelfall absieht, um ihn übersteigend zu regeln. Dieses Schema steht am Ausgangspunkt des abendländischen Denkens und wandelt sich durch seine ganze Geschichte hindurch ab. Es scheint sowohl der Erkenntnis wie der Seinsstruktur zu entsprechen - beides wird von Platon wie von Aristoteles und ihren Nachfolgern als innig vereinigt angesehen - spiegelt es doch die Weise nicht unmittelbar intuierenden, sondern diskursiven Denkens wie die Weise der seienden Dinge, die immer Erscheinung einer (nach Gattung und Art gestuften) Wesensstruktur und -gesetzlichkeit sind. (Fs)
9b Nun lassen sich die beiden Momente wertmäßig ganz verschieden betonen: man kann den Ton auf die (relativ) allgemeinen und notwendigen Wesensgesetze legen, soweit, daß man das Faktische, Empirische, das in der Sinnenwelt begegnet, nur als eine etwas verworrene Kreuzung der gesetzhaften Linien betrachtet, die der Denker entknäuelt und - vielleicht ganz, vielleicht mehrerenteils — in Wesenhaftes auflöst. Gegen solche anscheinende Entwertung des Einzelfaktums durch die rationale Philosophie protestiert von jeher eine Gegenströmung, die man philosophiegeschichtlich Empirismus nennt und die das Wirkliche als das je-einmalige Konkrete und Geschichtliche ansieht, während die abstrakten Wesensgesetzlichkeiten dem unzureichenden Versuch unseres endlichen Denkvermögens entstammen, mit dem nie voll zu bewältigenden Faktischen zu Rande zu kommen. (Fs)
10a Doch ist es ohne Zweifel so, daß die «rationalen» Systeme, sowohl im griechischen wie im christlichen Raum und bis zu Kant und Hegel, als die tragenden Pfeiler der hohen Philosophie galten, als die tiefere, gleichsam vornehmere Weise zu philosophieren, während der Empirismus, der die Kraft der eindringenden Abstraktion unterschätzt und bei den «sinnlichen Fakten» stehenbleibt, die oberflächliche Antithese dazu bildet, praktisch jedoch den immer erneuten Anlaß für wahre Philosophie, ihn zu überwinden. Eine solche Wertgebung liegt nahe; dennoch übergeht sie gewisse im Denken wie im Sein liegende Tatsachen, deren Vernachlässigung sich rächt. Sie liegt nahe, weil die tiefere Erklärung für alles, was in der Erscheinungswelt vor sich geht, immer in der Welt der Wesenheiten zu liegen scheint: das Unverständliche kann vom Weisen und Erfahrenen gedeutet werden als Darstellung der verborgenen Natur dieses Menschen, oder dieser Sippe, oder der Menschennatur überhaupt, an sich oder im Zusammentreffen mit gewissen kosmischen Gesetzen und Konstellationen, die den scheinbaren Zufall durchherrschen: welch zäher Glaube daran zeigt sich von den großen astrologischen Systemen der alten Hochkulturen bis herab zum abergläubischen Hängen am «Hundertjährigen Kalender»! Dieser beruhigenden Reduktion auf die Wesensgesetze gegenüber scheint das Faktisch-Historische, sofern es sich dieser Auflösung widersetzt, kaum etwas Positives, eher nur ein Denkhindernis zu bedeuten. Hegel hat den großartigen Versuch unternommen, das Reich der Fakten, die Geschichte, von der Vernunft her gesamthaft zu bewältigen, indem er die ganze Folge und Konstellation der Fakten in Natur- und Menschheitsgeschichte als die Erscheinung eines umgreifenden vernünftigen Geistes auslegte, der gerade auch als faktisch erscheinender vernünftig wäre. Das kann als die höchste Ehrung des Geschichtlich-Faktischen von der Vernunft her gedeuten werden, weil dieses jetzt nicht bloße Erscheinungswelt außerhalb der gesetzgebenden Vernunft ist, sondern sinnvolle Darstellung der Vernunft selbst (die also solcher Erscheinung bedarf, um Vernunft zu sein, sich selber zu sich selber zu vermitteln), es könnte aber mit ebensoviel Recht als eine letzte Abwertung des Faktisch-Geschichtlichen betrachtet werden, weil die Vernunft damit fertig geworden ist, somit für das Echt-Schöpferische und die Freiheit der handelnden Person kein Raum mehr verbleibt: Von Hegel mußte wenigstens ein Weg zu Marx führen. Aber dieser Weg ist für unsere Fragestellung kein Ausweg, denn der dialektische Materialismus ist nicht etwa die Ernstnahme der empirischen Fakten und Vorkommnisse, sondern erst recht ihre Tyrannisierung durch abstrakte und mechanische Ablaufgesetze, die nur an die Stelle der alten Essenzen und ihrer viel freieren ideologischen Gesetzlichkeit getreten sind. (Fs) (notabene) ____________________________
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