Autor: Voegelin, Eric Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Stichwort: Repräsentation (deskriptiv - existentiell); Hauriou: Dritte Republik; Sätze über die Beziehungen zwischen Macht und Recht Kurzinhalt: Wenn eine Regierung lediglich im konstitutionellen Sinn repräsentativ ist, wird ihr früher oder später durch einen repräsentativen Herrscher im existentiellen Sinn ein Ende bereitet; und sehr wahrscheinlich wird der neue existentielle Herrscher nicht ... Textausschnitt: 8. Disintegration
75a Die oben untersuchten theoretischen Sätze gehören in das Zeitalter der Gründung und der spätmittelalterlichen Konsolidierung der westlichen politischen Gesellschaften. Das Problem der Artikulierung zog erneut das Interesse auf sich, als die Gesellschaft in die Gefahrenzone der Auflösung geriet. Die Malaise der Dritten Republik war das Klima, in dem Maurice Hauriou seine Repräsentationstheorie entwickelte. Ich gebe hier eine kurze Zusammenfassung der Theorie, wie sie vonHauriou in seinem Precis de droit constitutionnel dargelegt wurde.1 (Fs)
76a Nach Hauriou ist die Gewalt einer Herrschaft legitim kraft ihres Fungierens als Repräsentant einer Institution, insbesondere des Staates. Der Staat ist eine nationale Gemeinschaft, in der die herrscherliche Gewalt die Geschäfte der res publica führt. Die erste Aufgabe einer Herrschergewalt ist die Schaffung einer politisch geeinten Nation durch die Umformung der vorgegebenen, unorganisierten Vielheit zu einem organisierten, zum Handeln befähigten Körper. Ihren Ursprung hat eine solche Institution in der Leitidee, in der idée directrice, die Institution zu verwirklichen, sie auszuweiten und ihre Macht zu vermehren; und die besondere Funktion eines Herrschers ist die Schöpfung dieser Idee und ihre Verwirklichung in der Geschichte. Die Institution erreicht ihre vollkommene Durchbildung, wenn der Herrscher sich selbst der Idee unterstellt und wenn zugleich das consentement coutumier der Glieder der Gesellschaft erreicht wird. Repräsentant sein heißt, in herrschender Stellung das Werk der Realisierung der Idee durch institutionelle Verkörperung zu lenken; und die Gewalt eines Herrschers hat Autorität, sofern es ihm gelingt, seine faktische Macht zum Repräsentanten der Idee zu machen. (Fs)
76b Aus dieser Auffassung leitet Hauriou dann eine Reihe von Sätzen über die Beziehungen zwischen Macht und Recht ab: (1) die Autorität einer repräsentativen Gewalt geht existentiell der Regelung dieser Gewalt durch positives Recht voran; (2) Gewalt ist kraft ihrer Basis in der Institution ein Rechtsphänomen; insofern eine Gewalt repräsentative Autorität besitzt, kann sie positives Recht setzen; (3) der Ursprung des Rechts kann nicht in gesetzlichen Bestimmungen gefunden werden, sondern muß in der Entscheidung gesucht werden, durch die anstelle einer Streitsituation eine geordnete Gewalt tritt. (Fs)
77a Die hier umrissene Theorie sowie die Reihe der Sätze richteten sich gegen wohlbekannte Schwächen der Dritten Republik. Die aus Haurious Analyse zu ziehende Lehre kann in folgender These zusammengefaßt werden: Um repräsentativ zu sein, genügt es nicht, wenn eine Regierung im konstitutionellen Sinn repräsentativ ist (unser deskriptiver Typus repräsentativer Institutionen); sie muß auch im existentiellen Sinn repräsentativ sein, indem sie die Idee der Institution verwirklicht. Und die hierin implizierte Mahnung kann in der folgenden These entwickelt werden: Wenn eine Regierung lediglich im konstitutionellen Sinn repräsentativ ist, wird ihr früher oder später durch einen repräsentativen Herrscher im existentiellen Sinn ein Ende bereitet; und sehr wahrscheinlich wird der neue existentielle Herrscher nicht allzu repräsentativ im konstitutionellen Sinn sein. (Fs) (notabene) ____________________________
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