Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Prinzipien christlicher Moral Titel: Prinzipien christlicher Moral Stichwort: Glaube - Moral - Lehramt; Gnade - Sittlichkeit; apostolische Nachfolge: Wahrung des apost. Glaubens, Konkretisierung d. sittlichen Anspruch d. Gnade Kurzinhalt: In seinem Mahnen mahnt die Gnade, mahnt Gott; es ist nicht variable Zutat zum Evangelium, sondern gedeckt von der Autorität des Herrn, auch wo es nicht in der Form des Befehls oder der Lehrentscheidung auftritt Textausschnitt: Glaube - Moral - Lehramt
60a Mit dem Hinweis auf die apostolische Mahnung ist nun über den Zusammenhang von Glaube und Moral hinaus das Lehramt ins Spiel gekommen. Denn die apostolischen Briefe sind Ausübung der Vollmacht zu lehren. In ihnen entscheidet Paulus «lehramtlich» auch über die sittliche Form des Glaubens; das gleiche gilt von der übrigen neutestamentlichen Briefliteratur wie auch von den Evangelien, die voller sittlicher Weisung sind, und schließlich auch von der Apokalypse. Paulus stellt in seiner Paraklese nicht Theorien über das Menschlich-Vernünftige zur Diskussion, sondern er legt den inneren Anspruch der Gnade aus, wie H. Schlier in seinem schönen Artikel über die Eigenart der christlichen Mahnung eindringlich dargestellt hat1. Gewiß, der Apostel verwendet die Form des ausdrücklichen Befehls nicht allzu häufig (1 Thess 4, 10f.), obgleich er sich bewußt ist, daß er dazu Vollmacht hat (2 Kor 8, 8); er will den christlichen Gemeinden nicht in der Weise des Anfahrens und Antreibens gegenübertreten, wie es die Pädagogen der Antike gegenüber den Kindern übten - er zieht das väterliche Zureden in der christlichen Familie vor. Aber gerade darin läßt er deutlich werden, daß in seinem Wort das Erbarmen Gottes selbst ruft. In seinem Mahnen mahnt die Gnade, mahnt Gott; es ist nicht variable Zutat zum Evangelium, sondern gedeckt von der Autorität des Herrn, auch wo es nicht in der Form des Befehls oder der Lehrentscheidung auftritt2. Das gleiche zeigt sich, wenn man auf die zentralen Motive seiner Mahnung achtet: Das Heilsgeschehen in Christus selbst, die Taufe, die Gemeinschaft des Leibes Christi, der Blick aufs Letzte Gericht3. Die Scheidelinie, die von der Gnade her gegenüber der Lebensform derer gezogen wird, die Gott nicht kennen, ist völlig klar: Sie heißt Abkehr von Unzucht, Habgier, Götzendienst, von Neid und Unverträglichkeit; Hinkehr zu Gehorsam, Geduld, Wahrheit, Sorglosigkeit, Freude! In diese Haltungen faltet sich das Grundgebot der Liebe auseinander4. (Fs)
62a Was wir bei Paulus sehen, setzt sich in den Schriften der Apostelschüler fort, in denen die apostolische Mahnung als maßgebliche Tradition jeweils für die Situation entfaltet wird5. Das bedeutet: Für das Neue Testament endet das kirchliche Lehramt nicht mit der Zeit der Apostel; es ist eine bleibende Gabe der Kirche, die in der nachapostolischen Zeit dadurch apostolische Kirche bleibt, daß die rechtmäßigen Nachfolger der Apostel für das Verbleiben bei der Lehre der Apostel Sorge tragen. Das hat Lukas in der Krise des Übergangs nachdrücklich dargestellt, in der er als Maßform der Kirche aller Zeiten die Jerusalemer Urgemeinde mit ihrem «Bleiben bei der Lehre der Apostel» (Apg 2, 42) darstellt und die Presbyter als Sachwalter eben dieses Verbleibens schildert (Apg 20, 17-38)6. Es ist nicht notwendig, in diesem Zusammenhang eine ins einzelne gehende Theorie des kirchlichen Lehramtes und seiner Zentrierung im Lehramt des Petrusnachfolgers zu entwickeln, obgleich es nicht schwierig wäre, die Linien aufzuzeigen, die im Neuen Testament einerseits mit dem immer deutlicher hervortretenden Begriff der Überlieferung und der Nachfolge, andererseits mit der Petrustheologie in diese Richtung laufen. Klar ist, daß der grundlegende Gehalt der apostolischen Nachfolge gerade in der Vollmacht zur Wahrung des apostolischen Glaubens besteht und daß die damit gegebene Lehrvollmacht wesentlich auch den Auftrag umfaßt, den sittlichen Anspruch der Gnade zu konkretisieren und zu präzisieren auf die jeweiligen Zeiten hin7. (Fs) ____________________________
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