Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Prinzipien christlicher Moral Titel: Prinzipien christlicher Moral Stichwort: Kritik, christliche Moral; kein Widerspruch: Originalität des Christlichen - Annahme der Weisheit anderer Völker Kurzinhalt: ... das christliche Proprium kann man nicht destillieren, indem man alles ausscheidet, was im Austausch mit anderen geworden ist. Die christliche Originalität besteht vielmehr in der neuen Gesamtgestalt, in die das menschliche Suchen und Ringen von ... Textausschnitt: Erste Gegeninstanzen
48a Beginnen wir mit dem Vordergründigsten, dem Einfachsten, um von hier aus auf die Spur der Sache zu kommen, das heißt mit der Frage der historischen Abkünftigkeit der biblischen Aussagen in Sachen Moral. Hier ist zunächst eine allgemeine methodische Frage zu untersuchen. Die Unterstellung, daß Überkommenes nie zu Eigenem werden könne, ist ganz einfach falsch. Das wissen wir aus unserem eigenen Leben - der theologische Satz «Was hast Du, das Du nicht empfangen hättest» (1 Kor 4, 7) läßt sich auch rein menschlich bewahrheiten; das wissen wir aber auch aus der ganzen Kulturgeschichte: Die Größe einer Kultur erweist sich in ihrer Kommunikationsfähigkeit, in ihrer Fähigkeit zum Geben und Nehmen, aber gerade auch zum Nehmen, zum Empfangen und Assimilieren ins Eigene hinein. Die Originalität des Christlichen liegt nicht in der Summe der Sätze, für die man noch keine Parallelen anderswo gefunden hat (wenn sich überhaupt solche Sätze feststellen lassen, was sehr die Frage ist); das christliche Proprium kann man nicht destillieren, indem man alles ausscheidet, was im Austausch mit anderen geworden ist. Die christliche Originalität besteht vielmehr in der neuen Gesamtgestalt, in die das menschliche Suchen und Ringen von der orientierenden Mitte des Glaubens an den Gott Abrahams, an den Gott Jesu Christi eingeschmolzen worden ist. Die Verweisung der Moral an die bloße Vernunft ist also mit der Feststellung der Herkünftigkeit der moralischen Aussagen der Bibel aus anderen Kulturen oder aus philosophischem Denken noch in keiner Weise gegeben - solches zu behaupten stellt einen denkerischen Kurzschluß dar, den man nicht länger hingehen lassen darf. Entscheidend ist nicht, daß man solche Sätze auch anderswo nachweisen kann, entscheidend ist allein die Frage, welche Stellung sie in der geistigen Gestalt des Christlichen einnehmen oder nicht einnehmen. Danach muß also nun gefragt werden. (Fs)
49a Setzen wir auch hier mit einer ganz einfachen Beobachtung an. Es ist historisch betrachtet unrichtig, zu sagen, der biblische Glaube habe jeweils die Moral seiner Umwelt bzw. den je erreichten Stand moralischer Vernunfterkenntnis übernommen. Denn «die Umwelt» als solche gab es gar nicht und eine einheitliche Größe «Moral», die schlicht übernehmbar gewesen wäre, existierte nicht. Wir stellen vielmehr fest, daß unter dem Maßstab dessen, was der Gestalt Jahwes entsprach, in einem oft genug höchst dramatischen Ringen zwischen jenen Elementen rechtlicher und moralischer Überlieferung der Umwelt geschieden wurde, die von Israel assimiliert werden konnten bzw. die von Israel unter dem Richtmaß seines Gottesbildes abgestoßen werden mußten. Der Kampf der Propheten ist letzten Endes auf diese Frage bezogen. Ob man an Natan denkt, der es David verwehrt, die Form eines allverfügenden orientalischen Potentaten anzunehmen, der auch die Frau des Nachbarn holen kann, wenn es ihm gefällt; ob man an Elija denkt, der mit dem Recht Nabots das vom Gott Israels gewährleistete Recht gegen den königlichen Absolutismus schützt; ob man an Amos denkt, der in seinem Kampf für das Recht der Lohnarbeiter, der Abhängigen überhaupt das Gottesbild Israels verteidigt - immer zeigt sich das Gleiche; auch der ganze Komplex des Streits zwischen Jahwe und Baal läßt sich nicht auf eine bloß «dogmatische» Frage reduzieren, sondern bezieht sich auf die untrennbare Einheit von Glauben und Leben, die hier im Spiele ist: Der Entscheid zu dem einen Gott oder zu den Göttern ist jeweils ein Lebensentscheid. (Fs) (notabene) ____________________________
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