Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Zur Lage des Glaubens Titel: Zur Lage des Glaubens Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Kluft: Kirche - Schrift; historisch-kritische Methode: Grenzen; neues "Lehramt": der Experte, Professor mit den je revidierbaren Thesen Kurzinhalt: ... jeder Katholik muß den Mut haben zu glauben, daß sein Glaube (in Gemeinschaft mit dem der Kirche) jedes 'neue Lehramt' der Experten, der Intellektuellen überragt. Ihre Hypothesen können zu einem besseren Verständnis der Entstehung der biblischen ... Textausschnitt: Die Kluft zwischen Kirche und Schrift
74a Zur Vertrauenskrise dem Dogma der Kirche gegenüber gesellt sich für Ratzinger die gegenwärtige Vertrauenskrise gegenüber der von der Kirche vertretenen Moral. Da es sich jedoch bei der Ethik seiner Ansicht nach um einen so wichtigen Bereich handelt, daß sie eine eingehende Erörterung verlangt, gehen wir später darauf ein. (Fs)
Hier soll es zunächst um seine Ausführungen zu einem anderen Problemkreis gehen: um die Krise des Vertrauens in die Schrift, so wie sie von der Kirche gelesen wird. (Fs)
74b Er sagt: "Das Band zwischen Bibel und Kirche ist zerrissen worden. Diese Trennung hat im protestantischen Bereich mit der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert angefangen und hat seit kurzem auch bei katholischen Gelehrten Eingang gefunden. Die historisch-kritische Interpretation hat zwar viele und großartige neue Möglichkeiten eröffnet, den biblischen Text besser zu verstehen, aber sie kann ihn ihrem Wesen nach nur in seiner historischen Dimension, nicht in seinem gegenwärtigen Anspruch erklären. Wo sie diese Grenze vergißt, wird sie nicht nur unlogisch und damit auch unwissenschaftlich; man vergißt dann auch, daß die Bibel als Gegenwart und Zukunft nur im Lebenszusammenhang der Kirche verstanden werden kann. Man liest sie dann nicht mehr von der Tradition der Kirche ausgehend und mit der Kirche, sondern, indem man von der neuesten Methode ausgeht, die sich als wissenschaftlich' darstellt. Aus dieser Unabhängigkeit ist bei einigen sogar ein Gegensatz geworden, der so weit reicht, daß für viele der überlieferte Glaube der Kirche von der kritischen Exegese her als nicht mehr vertretbar erscheint, sondern nur als ein Hindernis zum echten, 'modernen' Verständnis des Christentums empfunden wird." (Fs) (notabene)
75a Auf diese Situation wird er (indem er nach ihren Wurzeln fragt) noch zurückkommen, wenn es um die "Theologien der Befreiung" gehen wird. (Fs)
Hier nehmen wir sein Urteil vorweg, daß "die Trennung zwischen Kirche und Schrift dazu tendiert, beide von innen her auszuhöhlen. In der Tat: Eine Kirche ohne glaubhafte biblische Grundlage wird zu einem zufälligen geschichtlichen Produkt, zu einer Organisation neben anderen und zu jenem menschlichen, organisatorischen Rahmen, von dem wir sprachen. Aber auch die Bibel ist ohne die Kirche nicht mehr wirkmächtiges Wort Gottes, sondern eine Ansammlung vielfältiger geschichtlicher Quellen, eine Sammlung heterogener Bücher, aus denen man unter dem Gesichtspunkt der Aktualität das herauszuziehen versucht, was man für nützlich hält. Eine Exegese, in der die Bibel nicht mehr aus dem lebendigen Organismus der Kirche lebt und verstanden wird, wird zur Archäologie: Die Toten begraben ihre Toten. In jedem Fall liegt auf diese Weise das letzte Wort über das Wort Gottes als Wort Gottes nicht bei den legitimen Hirten, dem Lehramt, sondern beim Experten, dem Professor mit seinen immer vorläufigen und revidierbaren Ergebnissen". (Fs)
75b Für ihn wäre es folglich nötig, "daß man die Grenzen einer Methode zu sehen beginnt, die an sich wertvoll ist, aber unfruchtbar wird, wenn man sie absolut setzt. Je weiter man über die bloße Feststellung vergangener Daten hinausgeht und ein wirkliches Verstehen anstrebt, desto mehr fließen dann auch philosophische Ideen ein, die nur scheinbar ein Produkt wissenschaftlicher Untersuchung des Textes sind. Es kann dann bis zu so absurden Experimenten wie der 'materialistischen Auslegung' der Bibel kommen. Im übrigen ist heute gottlob unter den Exegeten selbst ein intensives Gespräch über die Grenzen der historisch-kritischen Methode und anderer moderner Auslegungsmethoden in Gang gekommen. (Fs)
76a Durch die historisch-kritische Forschung - fährt er fort - ist die Schrift wieder ein offenes Buch geworden, aber auch ein verschlossenes. Ein offenes Buch: Dank der Arbeit der Exegese nehmen wir das Wort der Bibel in neuer Weise in seiner historischen Ursprünglichkeit wahr, in der Vielfältigkeit des Werdens und des Wachsens einer Geschichte, voll von Spannungen und Kontrasten, die gleichzeitig seinen unerwarteten Reichtum ausmachen. Aber auf diese Weise ist die Heilige Schrift auch wieder zu einem verschlossenen Buch geworden: Sie ist zum Objekt der Experten geworden; ein Laie, aber auch der Fachtheologe, der nicht Exeget ist, kann es nicht mehr wagen, darüber zu sprechen. Sie scheint der Lektüre und der Reflexion des Gläubigen fast entzogen, denn das, was dabei herauskäme, würde als 'dilettantisch' gebrandmarkt werden. Die Fachwissenschaft errichtet einen Zaun um den Garten der Schrift, zu dem der Nicht-Experte mittlerweile keinen Zugang mehr hat". (Fs)
Ich frage: Kann folglich auch ein "moderner" Katholik wieder beginnen, seine Bibel zu lesen, ohne sich zu sehr um komplizierte exegetische Fragen zu kümmern?
76b "Gewiß - antwortet er -, jeder Katholik muß den Mut haben zu glauben, daß sein Glaube (in Gemeinschaft mit dem der Kirche) jedes 'neue Lehramt' der Experten, der Intellektuellen überragt. Ihre Hypothesen können zu einem besseren Verständnis der Entstehung der biblischen Bücher verhelfen, aber es ist ein Vorurteil evolutionisti-scher Herkunft, wenn behauptet wird, man würde den Text nur verstehen, wenn man seine Entstehung und Entwicklung studiert. Gestern wie heute gründet sich die Glaubensregel nicht auf die Entdeckungen der biblischen Quellen und Schichten (mögen sie wahr oder hypothetisch sein), sondern auf die Bibel, so wie sie ist, wie sie in der Kirche seit der Zeit der Väter bis jetzt gelesen worden ist. Gerade die Treue zu dieser Lektüre der Bibel hat uns die Heiligen hervorgebracht, die oft ungebildet waren, jedenfalls häufig nicht um exegetische Zusammenhänge wußten. Und doch sind sie diejenigen, die sie am besten verstanden haben." ____________________________
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