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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Bischof, Bischöfe, Bischofskonferenz; Überorganisation der deutschen Kirche; Rom; B. nicht in Konkurrenz zu Theologen

Kurzinhalt: Die Heiligen, sie alle sind Menschen mit Phantasie gewesen, nicht Funktionäre von Apparaten. Sie waren nach außen hin vielleicht sonderbare' Persönlichkeiten, und doch waren sie zutiefst gehorsam und gleichzeitig Menschen von einer großen Originalität ...

Textausschnitt: "Lehrer des Glaubens"

65a Nach welchem Kriterium, frage ich ihn, hat man sich in den vergangenen Jahren gerichtet und richtet man sich in Rom heute bei der Bestimmung der Kandidaten für die Bischofsweihe? Verläßt man sich immer noch auf die Hinweise der Apostolischen Nuntien beziehungsweise der "Gesandten des Papstes" (wie sie offiziell heißen), die der Heilige Stuhl in jedem Land hat?

"Ja - sagt er -, diese Aufgabe ist vom neuen Codex bestätigt: 'Zur Aufgabe eines päpstlichen Gesandten gehört es (...), für die Ernennung von Bischöfen dem Apostolischen Stuhl Namen von Kandidaten zu übermitteln oder vorzuschlagen sowie den Informationsprozeß über die in Aussicht Genommenen (...) durchzuführen' (CIC Can. 364,4). Das ist ein System, das, wie alles Menschliche, auch einige Probleme aufwirft, aber ich wüßte nicht, wie es zu ersetzen wäre. Es gibt Länder, deren Größe es dem Legaten unmöglich macht, alle Kandidaten direkt zu kennen. Es können daher Bischofskollegien zustande kommen, die nicht homogen sind. Verstehen wir uns recht, es will sicher niemand eine monotone, folglich langweilige Harmonie; unterschiedliche Elemente sind nützlich, aber es ist notwendig, daß sich in den grundlegenden Dingen alle einig sind. Das Problem ist, daß in den Jahren unmittelbar nach dem Konzil für eine gewisse Zeit das Profil des idealen 'Kandidaten' nicht ganz klar erschien."
Was meinen Sie damit?

65b "In den ersten Jahren nach dem II. Vatikanum - erklärt er - galt vor allem ein 'weltoffener' Priester als Kandidat für das Bischofsamt; jedenfalls rückte dieser Maßstab ganz in den Vordergrund. Nach der Wende von 1968 und im Zuge der Verschärfung der Krise hat man dann verstanden, daß die damit umschriebenen Eigenschaften allein nicht ausreichten. Man hat nämlich auch durch bittere Erfahrungen bemerkt daß wohl 'aufgeschlossene' Bischöfe nötig waren, aber auch solche, die zugleich imstande waren, sich der Welt und ihren negativen Tendenzen entgegenzustellen, um sie zu bessern, ihnen Einhalt zu gebieten und die Gläubigen davor zu warnen. Das Auswahlkriterium ist folglich mit der Zeit realistischer geworden, während die 'Öffnung' als solche in den veränderten kulturellen Situationen nicht mehr als Antwort und Rezept zu genügen schien. Übrigens hat ein ähnlicher Reifungsprozeß auch bei vielen Bischöfen eingesetzt, die in ihrer Diözese bitter erfahren mußten, daß sich die Zeiten wirklich geändert haben gegenüber den Zeiten des etwas unkritischen Optimismus unmittelbar nach dem Konzil."

66a Der Generationswechsel ist im Gang: Ende 1984 hatte praktisch die Hälfte des katholischen Weltepiskopats (Ratzinger eingeschlossen) nicht direkt am II. Vatikanum teilgenommen. Also übernimmt gerade eine neue Generation die Führung der Kirche. (Fs)

66b Eine Generation, der der Präfekt nicht raten würde, in Konkurrenz zu den Theologieprofessoren zu treten: "Als Bischöfe - erklärte er vor einigen Jahren - haben sie nicht die Funktion, im Konzert der Spezialisten auch noch ein Instrument spielen zu wollen." Zeitgemäße Lehrer des Glaubens und eifrige Hirten der ihnen anvertrauten Herde, gewiß; aber ihre "Aufgabe ist es vielmehr, die Stimme des einfachen Glaubens und seiner einfachen Ureinsichten zu verkörpern, die der Wissenschaft vorausliegen und da zu verschwinden drohen, wo die Wissenschaft sich absolut setzt. In diesem Sinn nehmen sie in der Tat eine durchaus demokratische Funktion wahr, die freilich nicht auf der Statistik, sondern auf der gemeinsamen Gabe der Taufe beruht". (Fs)

Rom, trotz allem

67a Während einer der Pausen in unserer Unterredung habe ich ihm eine Frage gestellt, die ein wenig scherzhaft gemeint war. Sie sollte ein wenig die Spannung lockern, die durch sein Bemühen um Verständlichkeit und durch meinen Wunsch nach Verstehen entstanden war. Die Antwort, die er gegeben hat, könnte, glaube ich, tatsächlich helfen, seine Idee von Kirche besser zu verstehen, die nicht auf Managern, sondern auf Menschen des Glaubens, nicht auf Computern, sondern auf Liebe, Geduld und Weisheit gegründet ist. (Fs)

Ich hatte ihn also gefragt, ob er (da er als ehemaliger Erzbischof von München und jetzt als Kardinal in Rom ja vergleichen könnte) lieber eine Kirche mit ihrem Zentrum in Deutschland anstatt in Italien hätte. (Fs)

67b "Das wäre schlimm!" meinte er lachend. "Dann hätten wir eine überorganisierte Kirche. Bedenken Sie: Wir hatten allein im Münchener Ordinariat 400 Beamte und Angestellte, alle regulär bezahlt. Nun, man weiß, daß von Natur aus jede Behörde die eigene Existenz dadurch rechtfertigen muß, daß sie Dokumente verabschiedet, Begegnungen veranstaltet, neue Strukturen plant. Zweifellos haben alle das Beste gewollt. Aber oft genug konnte es geschehen, daß die Pfarrer sich durch die Vielzahl der 'Hilfen' eher belastet als unterstützt fühlten."

Also, trotz allem, lieber Rom als die starren Strukturen, die Hyper-Organisation, die die nördlichen Menschen faszinieren?

67c "Ja, besser der italienische Geist, der bei seiner geringeren Organisationslust den einzelnen Persönlichkeiten, Einzelinitiativen und den originellen Ideen Raum läßt, die - ich erwähnte es im Blick auf die Struktur mancher Bischofskonferenzen - für die Kirche unerläßlich sind. Die Heiligen, sie alle sind Menschen mit Phantasie gewesen, nicht Funktionäre von Apparaten. Sie waren nach außen hin vielleicht sonderbare' Persönlichkeiten, und doch waren sie zutiefst gehorsam und gleichzeitig Menschen von einer großen Originalität und persönlichen Unabhängigkeit. Und die Kirche - ich werde nicht müde, es zu wiederholen - braucht Heilige mehr als Funktionäre. Mir sagt auch jene lateinische Mentalität zu, die der einzelnen Person selbst im notwendigen Netzwerk von Gesetzen und Codices immer einen Spielraum läßt. Das Gesetz ist für den Menschen da und nicht der Mensch für das Gesetz: Die Struktur hat ihre Berechtigung, aber sie darf nicht die Personen ersticken."

86a Der umstrittene Ruf, sage ich, der die römische Kurie seit jeher umgibt, angefangen vom frühen Mittelalter, über die Zeit Luthers bis heute ... (Fs)

Er unterbricht mich: "Auch ich schaute von Deutschland aus oft mit Skepsis, vielleicht sogar mit Argwohn und Ungeduld auf den römischen Apparat. In Rom habe ich dann die Erfahrung gemacht, daß diese Kurie weit über ihrem Ruf steht. In der großen Mehrzahl ist sie aus Personen zusammengesetzt, die hier im echten Geist des Dienstes wirken. Es kann auch nicht anders sein, in Anbetracht der bescheidenen Gehälter, die bei uns nahe an der Armutsgrenze liegen würden. Und wenn man auch sieht, daß die Arbeit der meisten sehr undankbar ist, weil sie sich anonym hinter den Kulissen abspielt und der Vorbereitung von Dokumenten oder von Stellungnahmen dient, die anderen, die an der Spitze der Strukturen stehen, zugeschrieben werden."
Der Vorwurf der Langsamkeit, der sprichwörtlichen Verspätungen in den Entscheidungen... (Fs)

69a Er sagt: "Dies geschieht auch, weil der Heilige Stuhl, dem oft nachgesagt wird, er würde im Gold schwimmen, in Wirklichkeit nicht imstande ist, die Kosten für das viele Personal aufzubringen. Viele, die glauben, das 'Ex-Heilige Offizium' sei eine gutausgestattete Behörde, können sich vielleicht nicht vorstellen, daß die Sektion für die Lehre (von den vier Abteilungen, aus denen sich die Kongregation zusammensetzt, die wichtigste und die von den Kritiken am meisten attackierte) nicht mehr als etwa zehn Personen zählt, den Präfekten eingeschlossen. In der ganzen Kongregation sind wir etwa dreißig. Folglich ein bißchen wenig, um jenen theologischen Putsch zu organisieren, dessen uns einige verdächtigen! Auf alle Fälle -Scherz beiseite - auch etwas wenige, um mit der notwendigen Pünktlichkeit all das zu verfolgen, was sich in der Kirche bewegt, geschweige denn, um jener Aufgabe der 'Förderung der heiligen Lehre' gerecht zu werden, die die Reform an die erste Stelle unserer Aufgaben setzt."

Wie verfahren Sie also weiter?

69b "Indem wir die Gründung von 'Glaubenskommissionen' in jeder Diözese oder Bischofskonferenz anregen. Gewiß behalten wir gemäß dem Statut das Recht, überall in der gesamten Kirche zu intervenieren. Aber wenn es Ereignisse oder Theorien gibt, die Unruhe hervorrufen, ermutigen wir vor allem die Bischöfe oder die Ordensoberen dazu, mit dem Autor in Dialog zu treten, wenn sie es nicht ohnehin schon getan haben. Nur wenn es nicht gelingt, die Dinge in dieser Weise zu klären (oder wenn das Problem die lokalen Grenzen überschreitet und internationale Ausmaße annimmt oder wenn die lokale Autorität selbst ein Einschreiten von Seiten Roms wünscht), nur dann treten wir in kritischen Dialog mit dem Autor. Zunächst teilen wir ihm unsere Stellungnahme mit, die aufgrund der Prüfung seiner Werke zusammen mit Gutachten von verschiedenen Experten erarbeitet ist. Er hat die Möglichkeit, uns zu korrigieren und uns zu sagen, wenn wir da oder dort sein Denken nicht richtig interpretiert haben. Nach einem Briefwechsel (und bisweilen einer Reihe von Gesprächen) antworten wir ihm, indem wir ihm eine definitive Einschätzung mitteilen und ihm vorschlagen, alle aus dem Dialog hervorgegangenen Klärungen in einem geeigneten Artikel darzulegen."
70a Ein Verfahren, das also bereits als solches viel Zeit in Anspruch nimmt. Wird es nicht zusätzlich noch durch Personalmangel und "romanische" Lebensrhythmen verlängert, wenn eine rechtzeitige Entscheidung notwendig wäre, oft gerade im Interesse des "Verdächtigten", der nicht zu lang im Ungewissen gehalten werden kann?

70b "Das ist wahr - räumt er ein -, aber ich möchte sagen, daß die sprichwörtliche vatikanische Langsamkeit nicht nur negative Seiten hat. Das ist eines der Dinge, die ich erst in Rom besser verstanden habe: die Kunst des soprassedere (Hinausschiebens), wie die Italiener sagen, kann sich als positiv erweisen, sie kann einer Situation die Gelegenheit geben, sich zu entkrampfen, zu reifen und sich folglich zu klären. Vielleicht liegt auch hierin eine alte lateinische Weisheit: Zu schnelle Reaktionen sind nicht immer wünschenswert; bisweilen respektiert eine nicht zu übertriebene Schnelligkeit in den Reaktionen besser die Personen."

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