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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Bischof (Aufgabe), Bischofskonferenz;

Kurzinhalt: Er fährt fort: "Ich kenne Bischöfe, die unter vier Augen zugeben, daß sie anders entschieden hätten als in der Konferenz, wenn sie allein hätten entscheiden müssen.

Textausschnitt: Die Aufgabe des Bischofs

61c Es gibt ein klares soziologisches Gesetz, welches - ob man es will oder nicht - die Arbeitsweise der nur scheinbar 'demokratischen' Gruppen leitet. Gerade jenes Gesetz hat (wie jemand vermerkt hat) auch im Konzil gewirkt. Man hat einige Sitzungen während der zweiten Session 1963 untersucht: An den Versammlungen in der Aula nahmen durchschnittlich 2135 Bischöfe teil. Von diesen griffen nur etwas mehr als 200, also 10 Prozent aktiv durch Wortmeldungen in die Debatte ein; die anderen 90 Prozent sprachen nie und beschränkten sich darauf, zuzuhören und abzustimmen. (Fs)

62a Im übrigen versteht es sich doch eigentlich von selbst, daß Wahrheit nicht durch Abstimmungen geschaffen werden kann. Eine Aussage ist entweder wahr oder sie ist nicht wahr. Die Wahrheit kann man nur finden, nicht schaffen. Von dieser Grundregel weicht auch - entgegen einer verbreiteten Vorstellung - das klassische Verfahren Ökumenischer Konzilien nicht ab. Denn auf ihnen galt immer, daß nur verbindliche Aussage werden kann, was mit moralischer Einstimmigkeit angenommen ist. Das bedeutet nun nicht, daß man mit einstimmig erzielten Ergebnissen sozusagen Wahrheit produzieren könnte. Die Vorstellung, die sich darin ausdrückte, war vielmehr, daß Einstimmigkeit so vieler Bischöfe unterschiedlicher Herkünfte, unterschiedlicher Bildungsformen und unterschiedlicher Temperamente ein Zeichen dafür sei, daß sie hier von dem sprechen, was sie nicht selbst erfunden, sondern nur gefunden haben. Die moralische Einstimmigkeit hat nach der klassischen Konzilsidee nicht den Charakter einer Abstimmung, sondern den Charakter eines Zeugnisses. (Fs)

62b Wenn man sich dies klarmacht, braucht man nicht mehr zu begründen, warum eine Bischofskonferenz, die ja einen sehr viel beschränkteren Kreis vertritt als ein Konzil, nicht über Wahrheit abstimmen kann. Im übrigen möchte ich hier auch noch auf einen psychologischen Sachverhalt verweisen. Wir katholischen Priester meiner Generation sind daran gewöhnt, die Gegensätze zwischen Mitbrüdern zu vermeiden und immer das Einvernehmen zu suchen und uns nicht so sehr durch exzentrische Standpunkte hervorzutun. So bringt in vielen Bischofskonferenzen der Gruppengeist und vielleicht auch der Wunsch nach einem ruhigen Leben oder der Konformismus die Mehrheit dazu, die Positionen von aktiven, zu klaren Zielen entschlossenen Minderheiten zu akzeptieren."

63a Er fährt fort: "Ich kenne Bischöfe, die unter vier Augen zugeben, daß sie anders entschieden hätten als in der Konferenz, wenn sie allein hätten entscheiden müssen. Indem sie das Gruppengesetz akzeptierten, haben sie die Mühe gescheut als 'Spielverderber', als Rückständig' und 'wenig aufgeschlossen' angesehen zu werden. Es scheint recht angenehm, immer gemeinsam entscheiden zu können. Auf diese Weise besteht jedoch die Gefahr, daß das 'Skandalon' und die 'Torheit' des Evangeliums verlorengehen, jenes 'Salz' und jener 'Sauerteig', was heute angesichts der Schwere der Krise weniger denn je für einen Christen entbehrlich ist (vor allem wenn er Bischof und folglich mit klaren Verantwortungen für die Gläubigen betraut ist)." (Fs)

Die jüngste Zeit scheint jedoch auf eine Tendenzwende gegenüber der ersten Nachkonzilsphase hinzudeuten. Zum Beispiel hat sich die Vollversammlung des französischen Episkopats von 1984 (es ist bekannt, daß dieses Land oft interessante und für den übrigen Katholizismus repräsentative Tendenzen zum Vorschein bringt) auf das Thema der recentrage, der "Rückzentrierung" festgelegt. Rückkehr zu dem von Rom gebildeten Zentrum; aber auch Rückkehr zu jenem unaufgebbaren Zentrum, das die Diözese ist, die Teilkirche, ihr Bischof. (Fs)

63b Dies ist, wie wir gehört haben, eine Bestrebung, die von der Glaubenskongregation unterstützt wird, und zwar nicht nur theoretisch. Im März 1984 hat sich der Führungsstab der Kongregation nach Bogota zur Versammlung der Glaubenskommissionen des lateinamerikanischen Episkopats begeben. Von Rom aus hat man darauf bestanden, daß an dem Treffen die Bischöfe persönlich teilnehmen und nicht nur ihre Vertreter, "so daß die eigene Verantwortung jedes einzelnen Bischofs unterstrichen wurde, der, um die Worte des Codex zu gebrauchen, der 'Leiter des gesamten Dienstes am Wort Gottes' ist, dem es obliegt, das Evangelium in der ihm anvertrauten Teilkirche zu verkündigen (vgl. CIC Can. 756 § 2). Diese Lehrverantwortung kann nicht delegiert werden. Demgegenüber gibt es Stimmen, die bereits die Tatsache, daß der Bischof seine Hirtenbriefe persönlich schreibt, für unerträglich halten!"

64a In einem von ihm unterzeichneten Dokument erinnerte Kardinal Ratzinger die Brüder im Bischofsamt an die ernsthafte und leidenschaftliche Ermahnung des Apostels Paulus: "Ich beschwöre dich bei Gott und bei Christus Jesus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem Erscheinen und bei seinem Reich: Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung. Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden. Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst!" (2 Tim 4,1-5). (Fs) (notabene)

64b Ein beunruhigender Text, bemerke ich, der in jede Zeit paßt, der aber dem Präfekten vielleicht besonders auf diese unsere Jahre zuzutreffen scheint. Auf jeden Fall kommt darin die Identität des Bischofs nach der Schrift zum Ausdruck, so wie Ratzinger sie erneut vorschlägt. (Fs)

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