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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Krise; Reform; Ecclesia semper reformanda; römische Liturgie: schaue nicht auf meine Sünden; Glaube: Antwort der Kirche auf Christus; Heilige als Wegweiser

Kurzinhalt: [Text des II. Vatikanums, Hinweis], indem er von der 'Treue der Braut Christi' spricht, die durch die Treulosigkeiten ihrer Glieder nicht in Frage gestellt ist... wahre 'Reform' ist dort, wo wir uns bemühen, das Unsere soweit wie möglich verschwinden ...

Textausschnitt: Für eine wahre Reform

50a Und doch gibt es, sage ich, neben dem traditionellen Ausdruck communio sanctorum (in jener umfassenden Bedeutung) auch einen anderen lateinischen Satz, der unter den Katholiken immer Gültigkeit hatte: Ecclesia semper reformanda, die Kirche bedarf immer der Reform. Das Konzil hat diesbezüglich klar geäußert: "Obwohl die Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes die treue Braut des Herrn geblieben ist und niemals aufgehört hat, das Zeichen des Heils in der Welt zu sein, so weiß sie doch klar, daß unter ihren Gliedern, ob Klerikern oder Laien, im Lauf so vieler Jahrhunderte immer auch Untreue gegen den Geist Gottes sich fand. Auch in unserer Zeit weiß die Kirche, wie groß der Abstand ist zwischen der von ihr verkündeten Botschaft und der menschlichen Armseligkeit derer, denen das Evangelium anvertraut ist. Wie immer auch die Geschichte über all dies Versagen urteilen mag, wir selber dürfen dieses Versagen nicht vergessen, sondern müssen es unerbittlich bekämpfen, damit es der Verbreitung des Evangeliums nicht schade" (Gaudium et spes, Art. 43). Wenn wir das Mysterium anerkennen, so sind wir doch auch aufgerufen, uns zu bemühen, die Kirche zu verändern?

50b "Gewiß - erwidert er -, in ihren menschlichen Strukturen ist die Kirche semper reformanda. Man muß sich jedoch in der Frage klar werden, wie und bis zu welchem Punkt. Der zitierte Text des II. Vatikanums gibt uns bereits einen deutlichen Hinweis, indem er von der 'Treue der Braut Christi' spricht, die durch die Treulosigkeiten ihrer Glieder nicht in Frage gestellt ist. Um das noch deutlicher zu machen, greife ich die lateinische Formel auf, die die römische Liturgie in jeder Messe zum 'Friedensgruß' vor der Kommunion dem Zelebranten in den Mund legte. Jenes Gebet lautet: 'Domine Jesu Christe (...) ne respicias peccata mea, sed fidem Ecclesiae tuae'; das heißt: 'Herr Jesus Christus, schaue nicht auf meine Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche.' Bei der Neufassung des Missale ist - mit durchaus einsichtigen Gründen - diese Ich-Formel zu einer Wir-Formel verändert worden: 'Sieh nicht auf unsere Sünden.' Ich möchte hier nicht Wert oder Unwert einer solchen Veränderung diskutieren, wohl aber auf ein Problem hinweisen, das dabei zum Vorschein kommt."

51a Warum soll man dem Übergang vom Ich zum Wir ein so großes Gewicht beimessen?

"Weil es - so erklärt er - einen wohlbedachten Sinn hatte, daß die Bitte um Vergebung in der ersten Person ausgesprochen wurde: Darin liegt ein Hinweis auf jene Notwendigkeit des persönlichen Eingeständnisses der eigenen Schuld, auf jene Unerläßlichkeit der persönlichen Bekehrung, die heute hingegen oft hinter der anonymen Masse des 'Wir', der Gruppe, des 'Systems', der Menschheit verschwindet, wo alle sündigen und folglich am Ende keiner gesündigt zu haben scheint. Auf diese Weise löst sich der Sinn für die Verantwortlichkeit, für die Schuld jedes einzelnen auf. Natürlich kann man die Neufassung des Textes auch richtig verstehen, weil in der Sünde immer das Ich und das Wir ineinandergreifen. Wesentlich ist, daß bei der neuen Betonung des Wir das Ich nicht verschwindet."

51b Dieser Punkt, so bemerke ich, ist wichtig, und es wird sich lohnen, später darauf zurückzukommen; aber kehren wir für jetzt dorthin zurück, wo wir stehengeblieben waren: zum Zusammenhang zwischen dem Axiom Ecclesia semper reformanda und der Anrufung Christi um persönliche Vergebung. (Fs)

52a "Einverstanden, kehren wir zu jenem Gebet zurück, das die Weisheit der Liturgie in einem bedeutsamen Moment der Messe einfügte, im Augenblick des physischen, innerlichen Einswerdens mit dem Christus, der sich zu Brot und Wein gemacht hat. Die Kirche ging davon aus, daß jeder, der die Messe zelebrierte, es nötig hätte zu sagen: 'Ich habe gesündigt; Herr, schaue nicht auf meine Sünden.' Es war die obligatorische Anrufung jedes Priesters: Die Bischöfe, selbst der Papst mußten sie in ihrer täglichen Messe gleichermaßen aussprechen wie jeder Priester. Und auch die Laien, all die anderen Glieder der Kirche, waren aufgerufen, sich jener Anerkennung der Schuld anzuschließen. Folglich mußten sich ausnahmslos alle in der Kirche als Sünder bekennen, die Vergebung erbitten, sich also auf den Weg ihrer wahren Reform begeben. Aber dies bedeutete keineswegs, daß auch die Kirche als solche Sünderin wäre. Die Kirche - das haben wir gesehen - ist eine Wirklichkeit, die auf geheimnisvolle und zugleich unendliche Weise die Summe ihrer Glieder übersteigt. In der Tat stellte man, um die Vergebung Christi zu erlangen, meiner Sünde den Glauben seiner Kirche gegenüber."

52b Und heute?

"Heute scheint dies von vielen Theologen, Geistlichen und Laien vergessen. Es geht gar nicht so sehr um die Umkehrung vom Ich zum Wir, von der persönlichen Verantwortung zur Betonung des kollektiven Elements. Der Gegensatz wird von uns heute spontan eher umgekehrt verstanden; man möchte sagen: 'Schaue nicht auf die Sünden der Kirche, sondern auf meinen Glauben' ... Wenn dies wirklich geschieht, sind die Konsequenzen schwerwiegend: Aus den Sünden der einzelnen werden die Sünden der Kirche, und der Glaube ist auf ein persönliches Geschehen reduziert, auf meine Weise, Gott und seine Forderungen zu verstehen und zu bejahen. Ich fürchte wirklich, daß dies heute eine weitverbreitete Art zu fühlen und zu denken ist: Es ist ein weiteres Zeichen, wie sehr sich vielerorts das katholische Allgemeinbewußtsein von einem authentischen Kirchenverständnis entfernt hat."

53a Was also tun?

"Wir müssen - antwortet er - wieder zum Herrn sagen: 'Wir sündigen, aber nicht die Kirche sündigt, die Dein ist und die Trägerin von Glauben ist.' Der Glaube ist die Antwort der Kirche auf Christus; sie ist Kirche in dem Maß, in dem sie Akt des Glaubens ist. Dieser Glaube ist nicht ein individueller, einsamer Akt, eine Antwort des einzelnen. Glaube bedeutet, gemeinsam glauben, mit der ganzen Kirche."

Worauf können sich dann jene "Reformen" beziehen, die wir doch immer in unsere Gemeinschaft von Glaubenden, die in der Geschichte leben, einbringen sollen?

53b "Wir müssen dabei immer gegenwärtig haben, daß die Kirche nicht die unsere ist, sondern die Seine. Folglich können sich die 'Reformen', die Erneuerungen' - so nötig sie auch sind - nicht in unserem eifrigen Bemühen um neue, verfeinerte Strukturen erschöpfen. Alles, was bei einer solchen Mühe herauskommen kann, ist eine Kirche 'von uns', nach unserem Maß, die zwar interessant sein kann, aber deshalb nicht schon von sich aus die wahre Kirche ist, jene, die den Glauben trägt und uns das Leben im Sakrament gibt. Ich möchte sagen, daß das, was wir machen können, unendlich geringer ist als Der, um den allein es letztlich geht. Folglich bedeutet wahre 'Reform' nicht so sehr, uns abzumühen, um neue Fassaden zu errichten, sondern (im Gegensatz zu dem, was manche Ekklesiologen denken) wahre 'Reform' ist dort, wo wir uns bemühen, das Unsere soweit wie möglich verschwinden zu lassen, damit das Seine, das Christus Gehörende besser sichtbar wird. Da in der Kirche unvermeidlich immer wieder sehr viel Unsriges entsteht, folgen daraus für jede Generation große Aufgaben wahrer Reform. Wegweiser müssen dabei die Heiligen sein, die die Kirche reformierten, nicht indem sie Pläne für neue Strukturen erarbeiteten, sondern indem sie sich selbst reformierten. Was die Kirche braucht, um in jedem Zeitalter auf die Bedürfnisse des Menschen zu antworten, ist Heiligkeit und nicht Management."

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