Autor: Lonergan, Bernard J.F. Buch: Methode in der Theologie Titel: Methode in der Theologie Stichwort: Funktionale Spezialisierung; Dialektik: 2 Aufgaben; D. in Beziehung zu Geschichte u. Interpretation; Geschichte (Fakten - Werte); intellektuelle, wertende Hermeneutik; Perspektivismus; Begegnung mit d. Geschichte Kurzinhalt: Interpretation hängt vom eigenen Selbstverständnis ab, und die Geschichte, die man schreibt, vom eigenen Verstehenshorizont; und die Begegnung ist nun der einzige Weg, auf dem man das Selbstverständnis und den Horizont einer Prüfung unterziehen kann. Textausschnitt: 3. Dialektik: Die Aufgabe
30/X Die Aufgabe, die sich in der Dialektik stellt, ist eine doppelte, weil unsere funktionalen Spezialisierungen Geschichte, Interpretation und spezielle Forschung auf zweifache Weise defizient sind. Friedrich Meinecke sagte einmal, es ginge in jeder historischen Arbeit sowohl um kausale Verbindung, als auch um Werte, daß aber die meisten Historiker dazu neigten, sich hauptsächlich entweder mit kausalen Verknüpfungen oder mit Werten zu befassen. Überdies behauptete er, die Geschichte, die den Werten Aufmerksamkeit schenkt, 'gibt uns [...] Inhalt, Lehre und Wegweisung für unser eigenes Leben'.1 (248f; Fs)
31/X Carl Becker ging sogar noch weiter. Er schrieb: 'Der Wert der Geschichte ist [...] nicht wissenschaftlich, sondern moralisch: indem sie den Geist befreit, die Sympathien vertieft, den Willen bestärkt, versetzt sie uns in die Lage, nicht die Gesellschaft, sondern uns selbst - was auch wichtiger ist - zu kontrollieren; sie befähigt uns, in der Gegenwart menschlicher zu leben und uns der Zukunft zu stellen, statt sie bloß vorauszusagen.2 Doch die funktionale Spezialisierung Geschichte, wie wir sie verstehen, befaßt sich mit Bewegungen, mit dem, was tatsächlich vor sich ging. Sie spezialisiert sich auf das Ziel der dritten Ebene des intentionalen Bewußtseins, auf das, was geschehen ist. Sie sagt nichts über Geschichte als primär mit Werten befaßte, und das zu recht, insofern als Geschichte, die sich hauptsächlich den Werten zuwendet, zu einer Spezialisierung nicht auf der dritten, sondern auf der vierten Ebene des intentionalen Bewußtseins gehört. (249; Fs)
32/X In ähnlicher Weise ging es in unserer Darstellung der Interpretation um das Verstehen der Sache, der Worte, des Autors, um das eigene Selbstverständnis, um die Beurteilung der Genauigkeit des eigenen Verstehens und um die Bestimmung, wie man das ausdrücken soll, was man verstanden hat. Doch neben einer derart intellektuellen Hermeneutik gibt es auch noch eine wertende Hermeneutik. Neben den potentiellen, formalen und vollständigen Sinngebungsakten gibt es auch noch konstitutive und effektive Sinngebungsakte. Nun ist aber die Erfassung von Werten und Unwerten nicht eine Aufgabe des Verstehens, sondern der intentionalen Antwort. Eine solche Antwort ist um so vollständiger und um so differenzierender, ein je besserer Mensch man ist, je feiner die Sensibilität und je zarter die eigenen Gefühle sind. Diese wertende Interpretation gehört zu einer Spezialisierung auf das Ziel der vierten Ebene und nicht auf das der zweiten Ebene des intentionalen Bewußtseins. (249; Fs)
33/X Dieserart ist eine erste Aufgabe der Dialektik. Sie hat der verstehenden Interpretation eine weitere, nämlich würdigende Interpretation hinzuzufügen. Sie fügt der Geschichte, die das erfaßt, was vor sich ging, jene Geschichte an, die die Leistungen bewertet, die Gut und Böse unterscheidet. Sie hat die spezielle Forschung zu lenken, die für eine derartige Interpretation und für eine solche Geschichte nötig ist. (249f; Fs) (notabene)
34/X Sodann gibt es eine zweite Aufgabe. Unsere Darstellung kritischer Geschichtswissenschaft versprach gleiche Ergebnisse nur für den Fall, daß Historiker vom gleichen Standpunkt ausgehen. Aber es gibt viele Standpunkte, und diese sind von unterschiedlicher Art. Da ist zunächst jene Färbung, die sich aus der Individualität des Historikers ergibt und zum Perspektivismus führt. Da ist die Unzulänglichkeit, die sich zeigt, wenn weitere Daten entdeckt werden und man zu besserem Verstehen kommt. Und schließlich gibt es noch die massiven Differenzen, die sich dann ergeben, wenn Historiker mit entgegengesetzten Verstehenshorizonten versuchen, die gleiche Ereignisfolge sich verständlich zu machen. (250; Fs)
35/X Mit derart massiven Differenzen hat es die Dialektik zu tun. Sie sind nicht bloß perspektivisch, denn der Perspektivismus ergibt sich aus der Individualität des Historikers; vielmehr ereignen sich diese massiven Differenzen zwischen gegensätzlichen, ja einander befehdenden Gruppen von Historikern. Sie lassen sich nicht, wie normalerweise, durch Entdekkung weiterer Daten beseitigen, denn weitere Daten werden aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso entgegengesetzte Deutungen zulassen, wie die bisher verfügbaren. Die Ursache massiver Differenzen ist ein massiver Unterschied des Horizonts, und die angemessene Abhilfe ist hier nichts Geringeres als eine Bekehrung. (250; Fs) (notabene)
36/X Wie die Geschichtswissenschaft, so verspricht auch die Interpretation keine eindeutigen Ergebnisse. Der Interpret kann die Sache, die Worte, den Autor und sich selbst verstehen. Wenn er aber eine Bekehrung durchmacht, wird er ein anderes Ich verstehen müssen, und das neue Selbstverständnis kann auch sein Verständnis der Dinge, der Worte und des Autors modifizieren. (250; Fs) (notabene)
37/X Spezielle Forschung wird schließlich mit einem Blick auf besondere exegetische oder historische Aufgaben betrieben. Die Horizonte, die die Ausführung dieser Aufgaben leiten, lenken auch die Durchführung der Forschung. Man findet leicht, was in den eigenen Horizont hineinpaßt. Sehr gering aber ist die Fähigkeit, das zu bemerken, was man nie verstanden oder konzipiert hat. Die einleitende spezielle Forschung kann Unterschiede des Horizonts ebenso aufdecken wie die Interpretation und die Geschichtswissenschaft. (250; Fs)
38/X Kurz gesagt, die erste Phase der Theologie bleibt unvollständig, wenn man sie auf Forschung, Interpretation und Geschichte beschränkt. Denn so wie wir diese funktionalen Spezialisierungen konzipiert haben, nähern sie sich zwar einer Begegnung mit der Vergangenheit, erreichen sie aber nicht. Sie stellen die Daten zur Verfügung, sie klären, was gemeint war, und sie berichten, was geschah. Begegnung ist jedoch mehr. Sie trifft Menschen, würdigt die Werte, die sie vertreten, kritisiert ihre Mängel und läßt zu, daß unser Leben durch ihre Worte und Taten bis an die Wurzel in Frage gestellt wird. Zudem ist solch eine Begegnung nicht bloß ein freigestellter Zusatz zur Interpretation und Geschichtswissenschaft. Interpretation hängt vom eigenen Selbstverständnis ab, und die Geschichte, die man schreibt, vom eigenen Verstehenshorizont; und die Begegnung ist nun der einzige Weg, auf dem man das Selbstverständnis und den Horizont einer Prüfung unterziehen kann. (250f; Fs) ____________________________
|